Rudolf Brockhaus

– Biographie

 aus bibelkommentare.de

Rudolf Brockhaus wurde als fünftes der dreizehn Kinder seiner Eltern Carl Brockhaus und Emilie – geborene Löwen – am 13. Februar 1856 in Elberfeld geboren. Er besuchte dort eine höhere Schule und wandte sich dann dem Baufach zu, das er bei dem Mülheimer Unternehmen Gottlieb Scheidt erlernte; wegen mangelnder Aufträge bei dieser Firma mußte er seine Lehre allerdings bei der Elberfelder Firma Seeger & Frese beenden. Bei der Firma Scheidt hatte er jedoch wohl seine spätere Frau, Therese Scheidt, die einzige Tochter seines Chefs, kennengelernt. Die beiden heirateten im Jahre 1881; in ihr, die ihn viele Jahre überleben sollte, fand er eine treue, gottesfürchtige Lebensgefährtin, die mit ihm die Schwierigkeiten und Prüfungen auf dem gemeinsamen Wege trug. Aus ihrer Ehe gingen zwölf Kinderhervor.

 

Obwohl Rudolf Brockhaus von seinem Vater schon früh mit der Botschaft vom Kreuz bekanntgemacht worden war, konnte er sich lange Zeit nicht der vollen Heilsgewißheit erfreuen. Er wußte um seinen verlorenen Zustand, um die Macht der Sünde in seinem Leben, um seine eigene Kraftlosigkeit und Un-fähigkeit, der Sünde zu entrinnen, und auch um das am Kreuz vollbrachte Werk des Herrn Jesus. Er wußte und glaubte, und dennoch war sein Gewissen noch nicht zur Ruhe und sein Herz noch nicht zum Frieden mit Gott gekommen. Als er in dieser Zeit - er war schon mehr als fünfzehn Jahre alt - ein-mal abends spät nach Hause kam und lange auf das Öffnen der Tür warten mußte, befiel ihn dies schreckliche Angst, der Herr sei gekommen, habe seine Lieben heimgeholt und ihn selbst zurückgelas-sen. Über diese Zeit des inneren Ringens urteilte er später: „Ich glaube nicht, daß ich verloren gegan-gen wäre, wenn der Herr mich abgerufen hätte, aber ich hatte keinen Frieden.“

 

Aber wie Gott jedem aufrichtig Suchenden antwortet, so bekam auch Rudolf Brockhaus bald eine Ant-wort auf seine Fragen. Als eines Sonntags beim Brotbrechen ein Bruder besonders innig dafür dankte, daß der Herr Jesus am Kreuz alles gut gemacht habe, hieß es im Herzen Rudolfs:

„Alles gutgemacht –ist das nicht genug?“ – „Ja,“ sagte er zu sich selbst, „es ist genug!“ Aber Satan ließ ihn noch nicht zur Ruhe kommen. Da wurde in der gleichen Zusammenkunft ein Lied vorgeschlagen, das er, wie er meinte, nicht mitsingen konnte, weil darin die besondere Freude über das vollbrachte Erlösungswerk zum Ausdruck kam. Wieder hieß es in ihm: „Ist es nicht genug, was der Herr am Kreuz für dich getan hat?“ Nun sagte er sich selbst: „Ja, es ist genug – und ich will es

festhalten!“

 

Jetzt war sein Gewissen zur Ruhe gelangt, aber ihm fehlte noch die tiefe Freude des Herzens. Nach der Zusammenkunft ging Rudolf zu seiner Mutter und sagte: „Mutter, jetzt kann ich auch glauben.“ Gerührt hörte die Mutter dieses Bekenntnis ihres Sohnes, und sie hatte Freudentränen in ihren Augen. Nach diesem Bekenntniswurde auch sein Herz von Freude erfüllt. Wie er selbst später oft erklärte, erfuhr er so die Wahrheit des Wortes: „Mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, und mit dem Munde wird bekannt zum Heil“ (Römer 10,10).

 

Obwohl Rudolf Brockhaus nach Ableistung des Militärdienstes bei einem Grenadier-Regiment in Stutt-gart den Wunsch hatte, seiner Neigung entsprechend eine Baufachschule zu besuchen, lenkte der Herr seine Wege anders. Er rief ihn, seine Zeit und Kraft ganz Ihm zur Verfügung zu stellen. Im elterlichen Hause hatte er schon früh Bekanntschaft mit den vielfältigen Aufgaben gemacht, die sein Vater in seinem Verlag und in seiner Tätigkeit im Evangelium und unter den Gläubigen zu erfüllen hatte. So begann er, sich in die Pflichten und Aufgaben des väterlichen Verlages einzuarbeiten. Während sein Vater meistens auf Reisen war, um Konferenzen, die vielen Versammlungen und einzelne Geschwister zu besuchen, widmete Rudolf Brockhaus sich zunächst den mit der Herausgabe der monatlichen Schriftenverbundenen Aufgaben. Er begann mit der Übernahme der Schriftleitung der „Samenkörner“, einer Zeitschrift mit vorwiegend erwecklichem und evangelistischem Inhalt.

 

Später kam dann die Arbeit am „Botschafter des Heils in Christo“ hinzu. Gemeinsam mit dem Altphilologen Dr. Alfred Rochat aus Stuttgart begann er auch, bei der Überarbeitung des alttestamentlichen Textes der „Elberfelder Bibel“ mit-zuhelfen. Dieser Aufgabe galt auch später immer sein besonderes Interesse. Mit der Verbesserung desNeuen Testaments beschäftigte sich auch Dr. Emil Dönges, der von 1884 bis 1886 im Elberfelder Verlag tätig war, ehe er nach Frankfurt am Main verzog.

 

Im Jahre 1894 übertrug Carl Brockhaus den Verlag seinem Sohn Rudolf ganz. Nun erfolgte auch erst-mals die gerichtliche Eintragung der Firma unter dem Namen „R. Brockhaus Verlag“ in Elberfeld.

Der Vater, der die geistlichen Fähigkeiten seines Sohnes erkannt hatte, bezog diesen auch mehr und mehr in die Reisetätigkeit ein. Schon im Anfang seines dritten Lebensjahrzehnts durfte Rudolf Brock-haus Reisen mit älteren Brüdern im Werk des Herrn unternehmen. Er besuchte mit ihnen die Gläubi-gen in den Häusern, diente bereits hier und da in den Versammlungen und konnte die ihm von Gott ge-schenkten Gaben mehr und mehr im Dienst an den Geschwistern gebrauchen. Ganz im Anfang seiner Tätigkeit im Werk des Herrn besuchte Rudolf Brockhaus einmal einige Versammlungen in Hessen in Begleitung des alten Bruders Philipp Richter. Eines Abends las Philipp Richter in einer Zusammenkunft ein recht schwieriges Kapitel aus der Heiligen Schrift vor, sagte einige kurze Worte über den verlesenen Abschnitt und setzte sich dann recht bald wieder. Rudolf geriet in Angst und Sorge! Aber er blickte auf zum Herrn und empfing von Ihm Gnade und Kraft, den versammelten Geschwistern in rechter Weise zu dienen. Immer wieder in seinem langen und gesegneten Leben machte er die Erfahrung, daß der Herr dem zu Hilfe kommt, der sich Ihm zur Verfügung stellt und auf die Leitung des Heiligen Geistes wartet.

 

Auf einer anderen Reise, bei der er den betagten Bruder John Nelson Darby in die Schweiz begleitete, empfing er von diesem eine gründliche Belehrung über die in Römer 7 beschriebene Person. Nachdem J. N. Darby ihm seine Gedanken dazu mehrfach mit großer Geduld dargelegt hatte, fragte Rudolf Brockhaus schließlich: „Es scheint mir, Sie denken, daß der Mann in Römer 7 den Heiligen Geist noch nicht hat?“ Darbys Antwort lautete: „Ich dachte wohl, daß das deine Schwierigkeit sei. Aber du solltest selbst darauf kommen.“ Als Rudolf Brockhaus dann von Zürich nach Elberfeld zurückkehren mußte, bedauerte J. N. Darby, daß er den schönen Genfer See nicht mehr sehen könne. „Aber Herr Darby, Sie haben mir doch selbst gesagt, daß Sie seit Ihren Jugendjahren keine Reise mehr zu Ihrem Vergnügen gemacht haben,“ entgegnete Rudolf Brockhaus. „Ja, mein lieber Rudolf, das ist eine andere Sache. Der Herr hat mir trotzdem viel Schönes von dieser Erde gezeigt. In Amerika fragte mich einmal eine Schwester, ob ich den Niagarafall schon gesehen hätte. Als ich verneinte, meinte sie, den müßte ich unbedingt sehen. Und was geschah? Mein Weg führte mich daran vorbei, und gerade als wir an der besten Stelle waren, hielt der Zug. Die Lokomotive hatte einen Defekt, und während dieser repariert wurde, konnten die Reisenden aussteigen. Rudolf, da hat mir der Herr den Niagarafall gezeigt, so schön, wie ich ihn sonstwohl nie zu sehen bekommen hätte“.

 

Der Herr Jesus hatte Rudolf Brockhaus in besonderer Weise mit der Gnadengabe eines Lehrers ausgestattet. Immer deutlicher erwies er sich auch als ein Führer im Sinne des Wortes Gottes (vergl.

Hebräer13,7

). Besonders auf den jährlich stattfindenden Konferenzen hinterließ er das Bild eines von Gott be-gnadeten demütigen Zeugen. Seine Ausführungen waren immer gründlich und bündig, wobei jedes Wort abgewogen war. Aus seinen Worten sprach die Liebe zu seinem Herrn und die unermüdliche Sorge für die Seinigen. Auch die höchsten und schwierigsten Dinge konnte er in einfachen und schlich-

 

ten Worten erklären. Auf einer Konferenz in Mülheim machte einmal ein fast dreißig Jahre jüngerer Bruder längere Ausführungen über den betrachteten Schriftabschnitt. Rudolf Brockhaus hörte still und aufmerksam zu. Als der Bruder geendet hatte, hörte man Rudolf Brockhaus: „Ach, bitte, lieber Bruder, können Sie noch einmal wiederholen? Ihre Erklärungen waren mir sehr wertvoll; ich möchte sie mir notieren.“

 

Nach der Übernahme der Verantwortung für den Verlag erschienen nun auch immer mehr Artikel aus der Feder von Rudolf Brockhaus. Er erwies sich als ein Schriftsteller, bei dem sich ein großes Verständnis der Wahrheit mit der Fähigkeit zu klarer Darstellung verband und der sich dadurch als großer Lehrer auszeichnete. Dabei folgte er immer dem Grundsatz, daß keine Weissagung der Schrift von eigener Auslegung ist und erklärte das Wort Gottes mit dem Worte Gottes (2. Petrus 1,20). Seine „Gedanken über den Brief an die Römer“ erschienen zuerst im „Botschafter“ (1929 – 1931), ebenso seine Betrachtung über den Brief an die Galater (Jahrgang 1931 – 1932). Von der Vielzahl seiner übrigen Schriften, die zumeist auch im „Botschafter“ erschienen, seien nur einige zum Teil noch heute erhältliche erwähnt:

 

„Ein Wort über die christliche Taufe“,

„Gethsemane“,

„Die Gabe des Heiligen Geistes“,

„Das Reich Gottes“ usw.

 

Auch als Dichter ist Rudolf Brockhaus hervorgetreten. Neben manchen Gedichten stammen die Num-mern 131, 135, 136, 139, 141, 142, 144 und 147 in dem Buch „Kleine Sammlung geistlicher Lieder“ von ihm. Wenige Tage vor seinem Heimgang schrieb er noch das folgende „Gebet“:

 

Nur auf Gott vertraue still meine Seele! (Psalm 62,5)

Herr, mach mich still!

Und führten Deine Wege

und Deine gute, heiligtreue Pflege

ganz anders mich, als ich es wünsch und will, o mach mich still!

Herr, lehre mich auf Deine Liebe bauen

und Deiner Weisheit rückhaltlos vertrauen!

Erschiene auch Dein Tun mir wunderlich,

o lehre mich!

Herr, Du bist treu!

Seit meiner Kindheit Tagen

hat Deine Güte sorglich mich getragen;

im Alter wird sie täglich, stündlich neu. Ja, Du bist treu!

Herr, bis zum Ziel

sind nur noch wenig Schritte.

Erhöre gnädig Deines Knechtes Bitte:

Laß Deinem Wink mich folgen treu und still bis hin zum Ziel!

 

Am 19. September 1932 ging Rudolf Brockhaus in Frieden heim zu seinem Herrn. Weit über tausend Geschwister erschienen zu seiner Beisetzung. Bei der anschließenden Nachfeier hielt sein Freund J. N.Voorhoeve aus Holland die folgende Ansprache:

 

„Warum haben wir doch alle Bruder Rudolf Brockhaus so lieb gehabt? – War es, weil unser Bruder so freundlich war, so einnehmend, daß selbst Kinder sich freuten, wenn er zu Besuch kam? Sicher, unser heimgegangener Bruder war freundlich, zuvorkommend und teilnehmend. Er fragte nach dem Wohl

 

anderer, und wir hatten ihn deshalb lieb. Aber war das der eigentliche Grund unserer großen Zuneigung? War es, weil er sich so jung in den Dienst des Herrn gestellt und mit solcher Treue sein ganzes Leben hindurch an der Bibel festgehalten hat? Dies letztere trifft sicherlich zu – war es doch nicht nur die letzte Zeit seines Lebens, auch nicht nur die Hälfte seiner Lebenszeit, die er in den Dienst des Herrn gestellt hat, nein, sein ganzes Leben war dem Herrn geweiht. Bruder Rudolf Brockhaus vermochte dies durch die Gnade Gottes, und er hat es mit Ausdauer getan. Wir hatten ihn auch deshalb lieb. Aber war das die Ursache unserer besonderen Anhänglichkeit?

 

War es, weil Bruder Brockhaus, wenn er sich geirrt hatte – was nur selten vorkam –, dies bei der ersten Gelegenheit öffentlich bekannte? Auch darum hatten wir ihn lieb, verriet es doch wahre Demut, die einen Knecht des Herrn ziert. Aber die eigentliche Ursache unserer Liebe liegt doch auch hier nicht.

War es wegen seiner herrlichen Gaben? Sicher, er war ein vollendeter Redner. Er hat viele Lieder ge-dichtet, die in unserem Herzen widerklingen. Aber sollte hier der Grund zu unserer besonderen Liebezu ihm zu suchen sein?

 

War es schließlich, weil er an der neuen Bibelübersetzung und deren Verbreitung einen so großen An-teil hatte, und weil er so viele gute Schriften herausgegeben hat? Ohne Zweifel ist auch dies eine Ursache mit, weshalb wir ihn so liebten. Und doch – die Antwort auf unsere Frage ist damit nicht gegeben.

 

Nein, die eigentliche Ursache war eine andere. Ich will sie mit den Worten der Schrift nennen. Wir hat-ten unseren Entschlafenen so lieb, weil er „das Wort der Wahrheit recht teilte“ (2. Timotheus 2,15).

Das war es, was seinen Dienst vor allem anderen auszeichnete, namentlich in den zahllosen Konferenzen, denen er beiwohnte und die er leitete. Er pflegte niemand zu schonen. Für den Augenblick mochte es manchmal nicht so angenehm sein, aus seinem Munde zu hören, daß die geäußerte Ansicht nicht richtig war. Aber weil man wußte, daß es seine große Liebe zum Worte Gottes war, die ihn so sprechenließ, lernte man es schätzen. So wurde der Grund zu wahrer, bleibender Hochachtung und echter Liebe gelegt!

Groß ist nun unsere Betrübnis, solch einen Geliebten fortan hier auf Erden missen zu müssen. Und wir denken an Apostelgeschichte 20,38, wo wir von der Betrübnis am Strande von Milet lesen, als Paulus im Begriff war, abzureisen und die Brüder – da sie sein Antlitz zum letztenmal sahen – weinend von ihm Abschied nahmen.

Doch unser Bruder würde der erste sein, die Aufmerksamkeit von sich selbst weg und auf den Herrnhinzulenken. Wer uns auch verläßt – der Herr bleibt bei uns!

 

Laßt uns darum mutig vorwärtsschreiten, indem wir von ihm lernen, das Wort der Wahrheit recht zuteilen, für die Wahrheit einzustehen, die Wahrheit um keinen Preis zu verkaufen. Dann wird Gott uns segnen!

 

Wenn treue Brüder aus dem Leben scheiden, fragen wir: „Was soll nun werden?“ So haben wir es auch in Holland erfahren. Aber der Herr hat die Furcht beschämt und den Glauben nicht beschämt. Darum laßt uns unsere Augen erheben zu dem Gott des Elia, zu dem Gott unseres Bruders Rudolf Brockhaus, der auch unser Gott ist!“


Gethsemane

Rudolf Brockhaus


Aus „Botschafter des Heils in Christo“ (Jahrgang 1903).

 

© 2023 Ernst-Paulus-Verlag und www.bibelkommentare.de

 

Dieser Kommentar ist im Internet veröffentlicht unter: www.bibelkommentare.de/get/cmt.257.pdf

Vorwort

 

Der Kampf des Herrn in Gethsemane mit den Ihn begleitenden erschütternden und herzbewegenden Umständen ist von jeher ein Gegenstand eingehender Untersuchung gewesen. Er hat mit Recht das Interesse aller Schriftforscher erregt und zu vielen Erörterungen Anlass gegeben, deren Ergebnisse sich indes vielfach widersprechen. Durch eine in christlichen Kreisen weit verbreitete Schrift, die den geheimnisvollen Vorgang im Garten Gethsemane in Verbindung mit den Worten des Apostels in Heb 5,7–9 behandelt,1 ist die Frage wieder mehr in den Vordergrund gerückt worden und beschäftigt von neuem Tausende von Christenherzen. Viele sind durch die Ausführungen des Verfassers in hohem Grade befriedigt, andere in demselben Maße beschwert worden. Die nachstehende Betrachtung soll nun nicht eine Widerlegung jener Schrift sein. Der Schreiber fühlt sich vielmehr durch die Liebe zu seinem Herrn und das Interesse für seine Mitgläubigen gedrängt, niederzuschreiben, was sein Herz bewegt. Es geschieht in dem tiefen Bewusstsein aller menschlichen, und vor allem der eigenen völligen Unzulänglichkeit, einen solchen Gegenstand gebührend oder gar erschöpfend behandeln zu können. Der Schreiber ist durchaus einverstanden mit dem Verfasser oben genannter Schrift, dass der Boden von Gethsemane in ganz besonderer Weise „heiliges Land“ ist, das von dem Menschen nur in tiefster Ehrfurcht mit unbeschuhten Füßen betreten werden darf. Ja, mehr noch: Weil es sich um die Person unseres hochgelobten Herrn und Heilandes, des Bildes des unsichtbaren Gottes, „Gott geoffenbart im Fleische“, handelt, wohnen dem Vorgang in Gethsemane Höhen und Tiefen inne, die nur von dem Auge und Herzen Gottes, der allein „den Sohn erkennt“, ausgemessen werden können. In Anbetracht dessen ist auch mit Recht bemerkt worden, dass das Verständnis der Vorgänge in Gethsemane und vor allem einer Schriftstelle, wie Lukas 22,44, weit mehr von dem geistlichen Herzenszustand des Betrachtenden abhinge, als durch Auslegung seitens anderer vermittelt werden könne.

 

1 „Gethsemane, ein Blick ins Heiligtum“, von Pfarrer K. Huhn, mit einem Vorwort von Otto Stockmayer.


  

Jesus wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch

„Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch er in gleicherweise an denselben teilgenommen, auf dass er durch den Tod den zunichte machte, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel.“ (Heb 2,14)

 

Im Verfolg des im Vorwort Gesagten wird der Leser es gerechtfertigt finden, wenn wir uns vor Eintritt in unseren eigentlichen Gegenstand ein wenig mit der Person unseres Herrn beschäftigen. Kein Vorgang in Seinem Leben, vor allem nicht ein so ernster und wichtiger wie der genannte, kann richtig verstanden und beurteilt werden, solange irgendwelche Unklarheit über Seine Person in der Seele besteht. Darum ging auch von Anfang an das Bestreben des Feindes dahin, die Herzen der Gläubigen im Blick auf die anbetungswürdige Person unseres Herrn zu verwirren und allerlei falsche Vorstellungen in ihnen wachzurufen. Wie es Zweck und Absicht des Heiligen Geistes ist, Ihn zu verherrlichen, so ist es Zweck und Absicht des Feindes, Seine Herrlichkeit vor den Augen der Menschen zu verdunkeln. Wie gewaltig seine Anstrengungen in dieser Beziehung gerade in unseren Tagen sind, ist jedem treuen Christenherzen schmerzlich bekannt. Satan findet seine Diener und Werkzeuge nicht nur in den Reihen der offenbar Ungläubigen, sondern auch (obgleich diesen selbst unbewusst) unter solchen, die noch an der Wahrheit der „Schriften“ und der Göttlichkeit der Person Christi festzuhalten bekennen. Es ist darum eine heilige Pflicht und eine tiefe Freude aller, die es treu mit ihrem Bekenntnis zu Christo meinen, immer und immer wieder, so oft Gott Gelegenheit dazu gibt, für ihren Herrn Zeugnis abzulegen und in Wort und Schrift Sein Bild genau so festzuhalten, wie Gottes heiliges Wort es uns darstellt.

Jesus ist wahrhaftig Gott und wahrhaftig Mensch in einer Person, der Abglanz der Herrlichkeit Gottes, der Abdruck Seines Wesens (Heb 1,3). Die Verbindung von Gottheit und Menschheit in Ihm ist ein unbegreifliches, unerklärliches Geheimnis. „Anerkannt groß ist das Geheimnis der Gottseligkeit: Gott ist geoffenbart worden im Fleische usw.“ (1. Tim 3,16). „Das Wort ward Fleisch“ (Joh 1,14). Christus ist Mensch geworden, Er hat teilgenommen an „Blut und Fleisch“ (Heb 2,14), aber nicht so, als habe Er unsere sündige Natur angenommen, als sei Er „unser Bruder“ geworden2, oder als habe Er, indem Er

 

2 Ist es nicht überhaupt schon unehrerbietig, Christum „unseren Bruder“ zu nennen, selbst wenn man nicht dem ganz verkehrten Gedanken Raum gibt, dass Er durch Seine Menschwerdung in dieses Verhältnis zu uns eingetreten sei? Er schämt sich nicht (und wohl gemerkt: erst nach Seiner Auferstehung, im Blick auf das ganz neue Verhältnis zum Vater, in welches Er die Seinen bringen wollte), uns Seine Brüder zu nennen. Aber sollten wir unseren erhabenen Herrn, das Haupt Seines Leibes, der „in allen Dingen den Vorrang“ haben muss, je so nennen? Die Schrift tut es nie, und ein geistliches Herz fühlt unwillkürlich, dass es ungeziemend ist. – Den Titel „Bruder“ nun gar auf Sein Verhältnis zu uns als der Menschgewordene, vom Weibe Geborene, anzuwenden, ist ganz und gar schriftwidrig. Jesus sagt: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht“ (Joh 12,24). Er stand als Mensch auf dieser Erde ganz allein. Eine Verbindung mit einem lebenden Christus, eine Vereinigung zwischen Heiligem und Unheiligem, war unmöglich. Sie konnte nur auf Grund Seines Todes geschlossen werden. Nur so konnten wir geheiligt, nur so konnten viele Söhne zur Herrlichkeit gebracht werden (Heb 2,10).


 

Mensch wurde, aufgehört Gott zu sein. Nein, der Engel Gabriel sagt zu Maria bei der Ankündigung Seiner wunderbaren Geburt: Das Heilige, das geboren werden wird, wird Sohn Gottes genannt werden“ (Lk 1,35). Und Gott selbst spricht zu Ihm, dem Menschgewordenen, in der Zeit Geoffenbarten: „Du bist mein Sohn; heute habe ich dich gezeugt“ (Heb 1,5). So war Jesus wirklich und wahrhaftig Mensch, geboren von einem Weibe, Marias Sohn. Aber Er war zugleich wirklich und wahrhaftig Gott, als Mensch von Gott gezeugt, Gottes Sohn.

Aus diesem Grunde ist es für niemand möglich, den Sohn zu erkennen, außer für Gott allein. Kein Mensch, kein Engel kann diese geheimnisvolle Vereinigung von Menschheit und Gottheit in Christo verstehen oder ergründen. Sie ist unerforschlich, ein Gegenstand des Glaubens, nicht der Erkenntnis. Wer sie ergründen und erklären will, gerät unfehlbar auf Irrwege. Wenn es sich um die Erkenntnis des Vaters handelt, so fügt Jesus dem: „Niemand erkennt den Vater, als nur der Sohn“, hinzu: „und wem irgend der Sohn Ihn offenbaren will“. Aber wenn es sich um Ihn, den Sohn, handelt, wie Er hienieden geoffenbart war, so vermag niemand Ihn zu erkennen, als Gott allein. Er ist uns auch nicht zu diesem Zweck gegeben, sondern, gleich dem Manna in der Wüste, zum Genuss, zur Speise unserer Seelen, als Gegenstand unseres Glaubens, unserer demutsvollen Betrachtung und vor allem unserer Anbetung.

 

 

Nur wenn wir diese Wahrheit festhalten und in heiliger Ehrfurcht beachten, können wir das Reden und Wirken unseres Herrn auf dieser Erde verstehen und mit wahrem Nutzen verfolgen, während wir im entgegen gesetzten Falle vor tausend ungelösten Rätseln stehen und zu zahllosen verkehrten Schlüssen und Auslegungen kommen. Niemals, selbst nicht in den Zeiten Seiner tiefsten menschlichen Erniedrigung, fehlt das Zeugnis von Seiner wahren Gottheit. Er war und blieb in allen Lagen und unter allen Umständen Er selbst, Gott geoffenbart im Fleische, und der erneuerte Sinn sucht mit Fleiß nach solchen Zeugnissen, und das Auge des Glaubens betrachtet sie mit himmlischer Freude. Der Geist Gottes hat auch mit eifersüchtiger Sorge darüber gewacht, dass die mannigfaltigen Herrlichkeiten der Person Christi, die verschiedenen Seiten Seines Charakters und Wesens, Seiner göttlichen und menschlichen Natur, in den Schriften des Neuen Testaments immer wieder zur Darstellung gekommen sind.

 

 

Es ist bekannt, dass jeder einzelne der vier Evangelisten Jesum von einem besonderen Gesichtspunkt aus betrachtet. Jeder behandelt seinen Gegenstand unter der Leitung des Heiligen Geistes in einer ihm eigentümlichen Weise. Wie einst im Alten Bunde das „Räucherwerk“ aus drei verschiedenen Arten wohlriechender Gewürze und aus geläutertem Weihrauch hergestellt werden musste (vgl. 2. Mose 30,34–38), so hat es Gott gefallen, uns in den vier Evangelien ein Gesamtbild von der Person Seines geliebten Sohnes zu geben: jeder einzelne Teil wohlriechend und kostbar, vollkommen in sich selbst, und doch erst in Verbindung mit den anderen ganz an seinem Platze. Obwohl ich befürchten muss, bereits Bekanntes zu sagen, möchte ich doch, weil wichtig für unseren Gegenstand, kurz daran erinnern, dass Matthäus uns vornehmlich Christum als den Messias, den Sohn Davids, den Erfüller aller dem Volke Israel gegebenen Verheißungen, vor Augen stellt, dass Markus Ihn als den vollkommenen Diener, den Propheten Gottes, betrachtet, während Lukas den Sohn des Menschen beschreibt, und Johannes durchweg Seinen Charakter als Sohn Gottes hervorhebt. Daher in Matthäus die vielen Hinweise auf die Erfüllung alttestamentlicher Prophezeiungen, die ausführliche Mitteilung der Grundsätze des Reiches in der so genannten Bergpredigt, die Entwicklung des Charakters dieses Reiches nach der Verwerfung des Königs (Kap. 13), der Empfang als „Sohn Davids“ in Jerusalem

 


 

(Kap. 21, 9. 15) u. a. m.; – in Markus das Fehlen jeglichen Geschlechtsregisters samt der Geschichte der Geburt und Jugend Jesu, das Hervortreten des unermüdlichen Dienstes Christi als Prophet und Diener3, als Träger des Wortes und Prediger des Evangeliums („Anfang des Evangeliums Jesu Christi“ sind die charakteristischen Worte, mit denen Markus seinen Bericht einleitet); – in Lukas die eingehende Beschreibung der Menschwerdung Christi, Seiner Jugend, Seines Heranwachsens („Er nahm zu an Weisheit und an Größe, und an Gunst bei Gott und Menschen“), die Zurückführung des Geschlechtsregisters bis auf Adam, die häufige Erwähnung des Betens Christi, als Ausdruck Seiner Abhängigkeit von Gott, der besondere Bericht über Gethsemane, der sich so wie hier nirgendwo findet; – in Johannes das Bestehen Christi, des ewigen Wortes, vor dem Beginn aller Dinge, mit Auslassung der Geburtsgeschichte und der Einführung des Herrn in Seinen Dienst, die Erzählung mehrerer in den anderen Evangelien fehlender Wunder (wie die Auferweckung des Lazarus), in denen Seine göttliche Macht sich besonders offenbarte, das gänzliche Fehlen des Berichtes über Gethsemane und das Verlassensein von Gott auf dem Kreuze u. v. a.

 

 

Selbstverständlich sind in dem Vorstehenden nur einige wenige charakteristische Unterscheidungs- punkte erwähnt. Ein aufmerksamer Leser der Evangelien wird auf jeder Seite neue finden, aber er wird auch mit tiefem Staunen und anbetender Bewunderung die Entdeckung machen, wie göttlich genau ein jeder der vier Evangelienschreiber seinen Auftrag zur Ausführung gebracht hat, wie alles, was er berichtet, von Anfang bis zu Ende dem Charakter entspricht, den der Heilige Geist seiner Erzählung geben wollte. O, wenn die Erklärer der Evangelien nur mehr Rücksicht nehmen wollten auf die Absichten des Heiligen Geistes, wenn sie mit mehr Einfalt und Entschiedenheit festhalten möchten an der göttlichen Eingebung des Geschriebenen – wie viele Schwierigkeiten und scheinbare Widersprüche würden vor ihren Augen verschwinden, ja, sich in ebenso viele herrliche Beweise von der göttlichen Harmonie des Wortes umwandeln! Eine tiefere Ehrfurcht vor der Person des Sohnes Gottes würde auch wohl manche unbeabsichtigte, aber deshalb nicht weniger ernste und schmerzliche Verunglimpfung dieser anbetungswürdigen Person hingehalten haben.4 Der Geist

 

 
 


 

3 Die Worte des Herrn in Mk 13,32, die zu so manchen falschen Auslegungen Anlass gegeben haben: „Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, weder die Engel, die im Himmel sind, noch der Sohn, sondern nur der Vater“, stehen in völligem Einklang mit dem Charakter des Evangeliums. Der Herr will einfach sagen, dass Ihm als Prophet und Diener, so wie Markus Ihn darstellt, der Zeitpunkt der Erscheinung jenes Tages verborgen sei. Die Folgerung, die man aus dieser Stelle gezogen hat, als sei der Sohn Gottes hienieden nicht allwissend gewesen, ist ganz und gar verkehrt und läuft tatsächlich auf die Leugnung der Gottheit Christi hinaus. Man vergisst eben immer wieder, dass in Ihm beide Naturen, Gottheit und Menschheit, in unbegreiflicher Weise vereinigt waren, und dass das Menschliche in Ihm wirklich menschlich, das Göttliche wirklich göttlich war. Man teilt zugleich das Wort Gottes nicht recht, indem man die einzelne Stelle, den einzelnen Ausspruch, nicht betrachtet in Verbindung mit dem ganzen Buche und dem Zweck des Heiligen Geistes in ihm.

4 Wie weh tut es z. B., wenn man im Blick auf den Herrn Worte liest wie die folgenden: „Er lernte, auch ohne Einblick in

des Vaters Absichten, Ihn walten zu lassen, in dem lichtlosen Dunkel dem Vater zu folgen, alle Vernunft gefangen zu geben unter den Gehorsam gegen die Führung Gottes“; oder: „Am Kreuze war volle Klarheit der Lage für Ihn vorhanden, mag Er doch selbst, wenn Er Psalm 22 gelesen hatte, in dem Ausruf: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ einen Wink gefunden haben für einen Schmerz, auf den auch Er sich werde gefasst zu machen haben“; oder: „O, wer kann nachfühlen, was für eine Perspektive in ewige Nacht hinein unter dem Todeskampf und Schweiß sich vor Ihm auftat!“ oder: „Es scheint auch, dass es kein spezielles geschriebenes Gotteswort gab, welches Ihm diese Lage erklärte, so daß Er sich daran zurechtfinden konnte“. – Das ist nicht mehr der Christus des Wortes Gottes. Das heißt nicht, das wunderbare Geheimnis von der Person des Sohnes Gottes im Glauben und in einem anbetenden Geiste bewahren und Seine Gottheit und Menschheit unverletzt, in ihrer vollkommenen Harmonie, aufrecht halten.


 

und die Gesinnung eines Simeon tut uns Not, der, das Kindlein Jesus (ein Bild der Schwachheit) in seinen Armen haltend, ausrief: „Nun, Herr, entlässest du deinen Knecht, nach deinem Worte, in Frieden; denn meine Augen haben dein Heil gesehen, welches du bereitet hast vor dem Angesicht aller Völker“, und der wohl den Vater und die Mutter Jesu segnete, aber kein Wort des Segens über das Kindlein selbst aussprach. Und doch wäre das nach menschlicher Meinung so natürlich gewesen.

 

 

Wir haben weiter oben gesagt, dass selbst in den Zeiten der tiefsten menschlichen Erniedrigung Jesu niemals das Zeugnis von Seiner wahren Gottheit fehlte. Greifen wir aus den vielen einige wenige Beispiele heraus. Eins haben wir, abgesehen von dem Zeugnis des Engels bei der Geburt Christi, bereits erwähnt: das Verhalten Simeons bei der Darstellung Jesu im Tempel. Ein zweites, höchst bedeutsames finden wir bei der Taufe Jesu durch Johannes. Der Herr kommt zu dem Propheten, um sich von ihm taufen zu lassen und so Seinen Platz zu nehmen unter dem verachteten Überrest Israels, der sich dem Worte Gottes unterwarf und Gottes gerechtes Gericht über den Zustand des Volkes anerkannte. Welch eine Erniedrigung, zu der sich Jesus freiwillig, aus Gnaden, bereit finden lässt! Johannes, in Anerkennung der Würde der Person Jesu, weigert sich, Seinen Wunsch zu erfüllen, aber der Herr besteht darauf, Seinen Platz unter den Geringsten der Herde einzunehmen. „Lass es jetzt so sein“, sagt Er, „denn also gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen“. So verbindet Er sich in wunderbarer Herablassung auch mit Johannes: „es gebührt uns“, und erfüllt in Gemeinschaft mit ihm das, was dem ihm von Gott angewiesenen Platz als demütiger Diener und Retter Seines Volkes angemessen war. Hierauf tauft Ihn Johannes, und was geschieht? Der Himmel öffnet sich, der Heilige Geist steigt in Gestalt einer Taube auf Ihn hernieder, um „auf Ihm zu bleiben“, und eine Stimme aus den Himmeln ertönt: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe“. Nie vorher war etwas Ähnliches auf dieser Erde geschehen. Die Himmel öffnen sich über einen Gegenstand, der ihrer ganzen Aufmerksamkeit würdig ist, und der Mensch Jesus, der eben Seinen Platz unter den Bußfertigen Seines Volkes eingenommen hat, wird als Sohn Gottes, als der Gegenstand der Liebe und des Wohlgefallens Gottes anerkannt. Nicht Ihm wird ein Gegenstand im Himmel gezeigt, um Ihn dadurch für den vor Ihm liegenden verleugnungsvollen Pfad des Glaubens zu ermutigen und zu stärken, sondern Jesus selbst ist der Gegenstand der Bewunderung des Himmels und der Anerkennung seitens der Gläubigen hienieden. „Ich habe gesehen und habe bezeugt“, sagt Johannes, „dass dieser der Sohn Gottes ist“ (Joh 1,34).

 

 

Ein weiteres Beispiel: Jesus ist in der Wüste, und eine große, nach Tausenden zählende Menge ist um Ihn versammelt. Voll Mitgefühl und Erbarmen will Er sie nicht hungrig entlassen. Er benutzt die vorhandenen wenigen Brote und Fische, dankt Gott dafür, (wie es sich für einen gehorsamen, abhängigen Menschen geziemt) und – teilt aus als der Jehova, der die Armen Seines Volkes mit Brot sättigt. Bald nachher liegt Er, ermüdet durch den anstrengenden Dienst des Tages, an Bord des Schiflleins und schläft – welch ein sprechendes Bild von der Vollkommenheit Seiner Menschheit! Dann erhebt sich der Sturm, die verzagenden Jünger wecken den Meister, und – Er steht auf und gebietet in majestätischer Größe, wie einst am Roten Meere, dem Sturm und den Wellen, und sie gehorchen augenblicklich der Stimme ihres Schöpfers. Ein anderes Mal fordern die Einnehmer der Tempelsteuer von Ihm, dem Sohne des Königs, die Doppeldrachme. Er besitzt sie nicht, Er ist völlig arm, aber – Er sendet Petrus an den See und lässt durch einen Fisch das Geldstück bringen, dessen Er, der Gott des Tempels, bedarf, um den Menschen keinen Anlass zum Ärgernis zu geben. Bei einer anderen Gelegenheit sitzt Er müde, hungrig und durstig an dem Brunnen von Sichar und bittet ein armes Weib um einen Trunk Wasser, und gleich darauf sagt Er zu ihr: „Wenn du die Gabe Gottes kenntest und wer es ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken, so würdest du Ihn gebeten haben, und Er hätte dir lebendiges Wasser gegeben“. Und endlich: Als die Häscher kommen, um Ihn zu fangen, und Er sie fragt: „Wen suchet ihr?“ antworten sie: „Jesum, den Nazaräer“. Das war Sein Name als der demütige Zeuge Gottes hienieden, als der Allerverachtetste und Unwerteste. Anders kannten diese Leute Ihn nicht. „Jesus spricht zu ihnen: Ich bin‘s . . . Als Er nun zu ihnen sagte: Ich bin‘s, wichen sie zurück und fielen zu Boden“ (Joh 18,5+6). Warum dieses plötzliche Erschrecken und zu Boden Stürzen? Jehova, der Bundesgott Israels, der „Ich bin“ des Alten Testamentes, stand vor ihnen, und die bloße Erwähnung Seines Namens wirft die rohen Kriegsknechte zur Erde nieder. Jesus von Nazareth war der Jehova des Alten Bundes! Welch eine wunderbare Vereinigung von Gottheit und Menschheit in einer und derselben Person! Gott war gegenwärtig, zwar in Knechtsgestalt, aber deshalb nicht weniger Gott, der Herr des Himmels und der Erde.

 

 

Was sollen wir nun sagen, wenn angesichts dieser Tatsachen behauptet wird: „Das Leiden des Herrn in Gethsemane ist das Leiden eines Menschen, der „sterben“ muß und doch nicht sterben will, der aber keine Kraft hat über den Tod. Jesus ist im Begriff, dem Ansturm des Todes zu erliegen, und sieht nur eine einzige Aushilfe dagegen: das Eingreifen der göttlichen Allmacht. Ohne diese sinkt Er kraftlos unter den Bäumen des Gartens nieder, und wenn die Häscher kommen, Ihn zu fangen, finden sie Ihn tot?“ Ist dem Schreiber nie der Gedanke gekommen, dass er mit diesen Worten (gewiss ohne es zu wollen) nicht nur die Gottheit, sondern auch die sündlose Menschheit Christi leugnet? Freilich ist seine Auffassung nicht neu. Sie ist schon früher, wenn auch in etwas anderer Form, wiederholt ausgesprochen worden. Aber muss es das Herz nicht mit tiefem Schmerz erfüllen, wenn gläubige Männer, Knechte des Herrn Jesus, sie wieder aufgreifen, weiter entwickeln und als „einen Blick ins Heiligtum“, als „ein Licht“, das geeignet ist, „uns vorzubereiten für den Tag der Wiederkunft unseres Herrn“, einem weiten Leserkreise zugänglich machen?

 

 

Die angeführten Worte stehen in unmittelbarem Widerspruch zu der ganzen Lehre des Neuen und auch (soweit dieses davon redet) des Alten Testamentes über die Person Christi. Sie rütteln an den Grundlagen des Christentums, ja, sie stürzen sie um. Denn wenn es wahr ist, dass Jesus sterben mußte, dass Er in Gethsemane im Begriff war, dem Ansturm des Todes zu erliegen, dann war Er nicht der Fürst des Lebens, das Leben selbst, der nicht nur Leben in sich hatte, sondern Leben gab, die Quelle des Lebens war. War Jesus sterblich wie andere Menschen, d. h. dem Tode unterworfen, so konnte Er nicht Sein Leben freiwillig darlegen, als ein Opfer für uns. Er hätte als „Märtyrer“ sterben können, aber Sein Tod würde keine sühnende Kraft für uns gehabt haben. Aber Gott sei ewig dafür gepriesen! Es ist nicht so. Jesus selbst sagt: „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf dass ich es wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich habe Gewalt es zu lassen, und habe Gewalt es wiederzunehmen“. (Joh 10,17.18). Kein Mensch hat je so reden können. Kein Geschöpf hat ein Recht, über sein Leben zu bestimmen, es abzulegen, wenn es will, oder gar es wieder an sich zu nehmen, wenn es ihm so gefällt. Niemand hat die Macht, das zu tun. Aber Jesus war nicht ein Geschöpf, sondern der Schöpfer selbst. Er hatte das göttliche Recht und die Gewalt, Sein Leben zu lassen und es wiederzunehmen. Er war völlig frei, das zu tun, obgleich Er andererseits ein dahin gehendes Gebot von Seinem Vater empfangen hatte, also im Gehorsam handelte, indem Er starb. Er war Sohn mit all den göttlichen Rechten, die sich an diesen Titel knüpfen, und doch lernte Er an dem, was Er litt, den Gehorsam.

 

Wie ist es nun möglich, einem solchen Ausspruch unseres Herrn gegenüber zu behaupten, Jesus habe keine Kraft dem Tode gegenüber gehabt, Er habe nicht sterben wollen, aber sterben müssen, wenn Gottes Allmacht nicht eingegriffen hätte? Und ferner: „Er habe nichts in sich gehabt, womit Er dem Tode überlegen gewesen wäre?“ Wiederum müssen wir fragen: Wo bleibt da der Christus des Wortes Gottes, der Jehova-Jesus, der Gott-Heiland? Er verschwindet vor unseren Blicken, und ein bloßer Mensch, ohnmächtig, kraftlos, ja, der Notwendigkeit des Sterbens unterworfen, tritt an Seine Stelle.

 

 

Wohl meint der Verfasser des Schriftchens: „Wenn wir den Heiland in Gethsemane dem Tode preisgegeben sehen, so macht Ihn das vor dem Auge des Glaubens nicht kleiner, sondern nur größer“. Aber ist das wahr? Erscheint der Sohn Gottes dadurch größer, dass man Ihn zu unserem Standpunkt herabzieht, „Ihn ohne jeden Vorzug vor unserer Schwachheit sieht?“ Nein, es ist ein Trugschluss, eine Herabwürdigung des Herrn, des Immanuel – „Gott mit uns“, eine Erniedrigung noch unter den ersten Menschen in seinem Zustand vor dem Falle. Denn Adam mußte nicht sterben, er war nicht dem Tode unterworfen. Es wird uns nicht einmal gesagt, dass er fähig war, zu sterben. Erst an dem Tage, da er sündigen würde, sollte er des Todes sterben. Darum lesen wir in Röm 5,12: „Gleichwie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen, und durch die Sünde der Tod, und also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen ist, weil sie alle gesündigt haben“. Und in Röm 6,23: „Denn der Lohn der Sünde ist der Tod“.

 

 

Heißt es also nicht die sündlose Menschheit Christi, „des Heiligen“, das von Maria geboren wurde, leugnen, wenn man sagt, Er habe sterben müssen, der Tod habe Gewalt über Ihn gehabt? Ja, der Verfasser geht, im Anschluss an den Ausdruck „in den Tagen Seines Fleisches“ in Heb 5,7, sogar so weit, zu sagen: „Was bedeutet in Gottes Augen das Wort „Fleisch“? „Alles Fleisch ist Gras“. „Und das Wort ward Fleisch“. Wenn nun das Wort „Fleisch“ ward – ist da das Fleisch etwas anderes geworden, oder ist das Wort nicht so völlig Fleisch geworden, dass es auch unter diesem Gottesworte stand? Wo wird aber alles Fleisch als Gras offenbar? Beim Sterben, vor der Macht des Todes usw.“ Und einige Zeilen weiter: „Wir sehen, zu welchem tiefsten Maß der Schwachheit und Armut Er herabstieg, da Er Fleisch, d. h. Gras, wurde“.

 

 

Unwillkürlich erbebt das Herz, wenn es eine solche Sprache vernimmt. Sie ist nicht nur fehlerhaft, irrig und irreführend, sondern geradezu böse. Der Leser verzeihe das harte Urteil! Es würde nicht am Platze sein, wenn nicht die Ehre unseres teuren Herrn und die Wahrheit von Seiner Person in Frage ständen. Ist das aber der Fall, dann ist Ernst und unerbittliche Entschiedenheit gegenüber dem Irrtum unsere heilige Pflicht. Ich glaube, dass der Schreiber jener Sätze weit davon entfernt war, auch nur ein Wort zur Unehre unseres gemeinsamen Herrn und Heilandes schreiben zu wollen. Aber er hat – dieser Vorwurf kann ihm nicht erspart bleiben – den heiligen Boden nicht mit unbeschuhten Füßen, nicht mit der heiligen, ehrfurchtsvollen Scheu betreten, von der er selbst redet, und die sich für ihn und für uns alle geziemt. Anders würde er sicher vor solch schlimmen Schlussfolgerungen bewahrt geblieben sein.

 

 

„Das Wort ward Fleisch“. – „Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch Er gleicherweise an denselben teilgenommen“ (Heb 2,14). Was will das sagen? Christus hat die menschliche Natur angenommen. Er ist Mensch geworden in dem vollen Sinne des Wortes, nach Leib und Seele. Aber, wie wir schon weiter oben bemerkten, selbst in diesem Sinne war Er von Gott gezeugt. Die Kraft des Höchsten war die göttliche Quelle Seines Bestehens als Mensch auf dieser Erde. „Das Heilige, das geboren werden wird, wird Sohn Gottes genannt werden“. So wurde Jesus durch göttliche Kraft und durch die Einwirkung des Heiligen Geistes auf Maria, das begnadigte Gefäß, als „das Heilige“ geboren. Er war also, obwohl wahrhaft Mensch, nicht gleich dem ersten Adam vor dem Falle, denn Adam war unschuldig, Christus war heilig. Noch viel weniger kam Er in das Fleisch, das wir tragen, das durch und durch verderbt ist, dem die Sünde anhaftet, und das deshalb als „Gras“ dem Tode unterworfen ist. Er ist „im Fleische“ gekommen (1. Joh 4,2+3), ist „in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde“ hienieden erschienen (Röm 8,3), Er hat an Blut und Fleisch teilgenommen. Aber indem Er das tat, blieb Er völlig ohne Sünde, rein, heilig, den Folgen, welche die Sünde über uns gebracht hat, durchaus nicht unterworfen. Wäre Er aus irgend einem anderen Grunde, als der freiwilligen Hingabe Seiner selbst, dem Tode ausgesetzt gewesen, oder (mit anderen Worten) wäre Er infolge Seiner menschlichen Natur, des Zustandes von Fleisch und Blut, den Er angenommen hatte, in Gefahr gar gezwungen gewesen zu sterben, „den Tribut des Fleisches an den Machthaber Tod zu entrichten“, so würde das unfehlbar die Sündhaftigkeit dieses Fleisches, die Verbindung jener Natur mit der Sünde, bewiesen haben. Als unmittelbare Folge dieser Verbindung aber würde sich die Unmöglichkeit ergeben, dass Er Sein Leben freiwillig, als Sühnung für uns, aufopfern konnte. Die ganze Grundlage, auf der unser ewiges Heil beruht, wäre damit umgestürzt, die Wirksamkeit Seines Opfers aufgehoben, das ganze Erlösungswerk hinfällig. Wir wären noch in unseren Sünden, dem gerechten Gericht Gottes verfallen. Denn was verleiht diesem Werke und Opfer seinen ewigen Wert? Es ist gerade die fleckenlose, heilige, göttliche Person Dessen, der es vollbracht hat. Es ist Der, „dessen Ausgänge von der Urzeit sind, von den Tagen der Ewigkeit her“ (Micha 5,1), der da „eingesetzt war von Ewigkeit her, von Anbeginn, vor den Uranfängen der Erde“ (Spr 8,23), „der Christus, welcher über alles ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit“ (Röm 9,5). „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde“ (1. Joh 1,7).

 

 

Wie wenig Christus der Macht des Todes unterworfen war, das zeigt sich selbst am Kreuze. Nicht Satan, der die Macht des Todes hatte, nahm Ihm dort das Leben, Er erlag nicht dem Ansturm dieser finsteren Macht. Nein, Er gab Sein Leben freiwillig dahin. Als die schrecklichen Stunden der Finsternis, des Verlassenseins von Gott, vorüber waren, als Er ausrufen konnte: „Es ist vollbracht!“ danach rief er mit lauter Stimme und übergab Seinen Geist in die Hände des Vaters. Er starb nicht, wie ein gewöhnlicher Mensch stirbt, auch nicht wie ein Gläubiger stirbt. Er starb nicht, weil Er nicht mehr leben konnte, weil Er infolge Seiner Leiden und Seines körperlichen Zustandes sterben mußte, sondern in voller, ungeschwächter Kraft gab Er Sein Leben freiwillig dahin. Er ließ es, um es in der Herrlichkeit der Auferstehung wiederzunehmen. Pilatus selbst, der um das Sterben von Übeltätern am Kreuze Bescheid wusste, wunderte sich, dass Jesus schon gestorben sei, als Josef von Arimathia um den Leib Jesu bat, und er rief den Hauptmann herzu und fragte ihn, ob Er schon lange gestorben sei. Und als er es von dem Hauptmanne erfuhr, schenkte er Josef den Leib Jesu. Niemand, weder Mensch noch Teufel, nahm das Leben von Ihm.

 

 

Wohl ist es wahr, dass Er sterben mußte. Ein Doppeltes „muss“ lag vor, begründet einerseits in der Gerechtigkeit Gottes wider die Sünde und andererseits in der Liebe Gottes und Christi zu dem Sünder, aber eine physische Notwendigkeit des Sterbens war völlig ausgeschlossen. Zugleich erfüllte unser Herr in Seinem Tode ein Gebot des Vaters. Er war gehorsam bis zum Tode, ja, bis zum Tode am Kreuze.

 

 

Es ist so schön und herzerquickend, diesen beiden Beweggründen – Gehorsam und eigener freier Liebeswille – immer wieder in dem Tun Christi zu begegnen. Schon in der Unterredung, die vor Seinem Kommen auf diese Erde zwischen Ihm und dem Vater stattfand, zeigen sie sich in ihrer ganzen Lieblichkeit. Gott hatte kein Gefallen an Brand und Speisopfern, an Opfern für die Sünde, die nach dem Gesetz dargebracht wurden, sondern hatte sich schon vor Grundlegung der Welt ein Lamm ausersehen, das die Frage der Sünde ordnen sollte, und Christus sagt: „Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun“. Er kam in der Erfüllung des Gebotes und Willens Gottes, aber Er kam freiwillig. Gott bereitete Ihm einen Leib; aber zugleich nahm Er Knechtsgestalt an, nahm freiwillig teil an Fleisch und Blut. Es war Gottes Wille, dass Er den Pfad der Niedrigkeit gehen sollte, und doch

„erniedrigte Er sich selbst, indem Er gehorsam ward bis zum Tode, ja, zum Tode am Kreuze“. Es war nach Gottes Gedanken, dass Sein Gesalbter bei Seinem ersten Erscheinen keine An- und Aufnahme finden sollte, und doch verzichtete Er freiwillig, aus Gnaden, auf alle Seine Rechte als Messias und König Israels. Es war Gottes Ratschluss und Gebot, dass Er sterben sollte für die Sünde der Welt, aber zugleich ließ Er Sein Leben. Niemand nahm es von Ihm. Es war der Ratschluss der ewigen Liebe, dass er von Mörderhänden ans Kreuz genagelt und als Lamm Gottes geschlachtet werden sollte, und doch gab Er als das Lamm Sein Leben freiwillig dahin. Jehova gefiel es, Ihn zu zerschlagen, Er hat Ihn leiden lassen, und doch hat Seine Seele das Schuldopfer gestellt, und die Missetaten der Seinen hat Er auf sich geladen. Und als das Werk vollbracht und Sein Leib in das Grab gelegt war, ist Er auferweckt worden durch die Herrlichkeit des Vaters. Zugleich aber ist Er als Sieger über Tod und Grab auferstanden in der Kraft des in Ihm wohnenden Lebens und in der ganzen Machtfülle Seiner göttlichen Person. Und endlich, bei Seiner Himmelfahrt, wurde Er emporgehoben. indem eine Wolke Ihn hinweg nahm. Aber zugleich ist Er hinaufgestiegen und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe.

 

 

Doch wir müssen es uns versagen, diesen Gegenstand, so gesegnet er ist, noch weiter zu verfolgen. Gehen wir jetzt zu der Betrachtung des Kampfes in Gethsemane selbst über, und Gott, der Heilige Geist, wolle uns dabei leiten und vor allen eigenen Gedanken, vor jedem Irregehen in Gnaden bewahren!

 


    

Was ist Gethsemane?

 

„Vater, wenn du diesen Kelch von mir wegnehmen willst – doch nicht mein Wille, sondern der deine geschehe!“ ( Lk 22,42).

Nur die drei ersten Evangelisten berichten den heißen Kampf unseres Herrn in der Nacht vor Seinem öffentlichen Leiden und seinem Tode. Johannes schweigt völlig darüber, in Übereinstimmung mit dem Charakter seines Evangeliums. Die Schilderung der menschlichen Schwachheit unseres hochgelobten Herrn wäre in dem Buche, das Ihn vornehmlich als den Sohn Gottes darstellt, nicht am Platze gewesen. Dort musste Seine göttliche Macht, wie sie sich den Häschern gegenüber zeigt, ans Licht treten, und damit auch Seine Erhabenheit über Schwachheit und Leiden, wie sie sich z. B. nachher am Kreuze in Seiner Unterredung mit Maria und Johannes kundgibt.

 

 

Aber auch unter den Berichten von Matthäus, Markus und Lukas ist ein Unterschied zu bemerken. Während die beiden ersten den ganzen Vorgang, das dreimalige Beten des Heilandes, Sein Hin- und Hergehen zwischen der Stätte Seines Ringens und den schlafenden Jüngern usw. ausführlich erzählen, verweilt Lukas eigentlich nur bei dem Ende der Stunde der Versuchung, dem Höhepunkt des furchtbaren Seelenkampfes Jesu. Aber eben deshalb ist sein Bericht, obwohl kürzer, doch vollständiger, tiefer in das Wesen der Sache eingehend. Auch schildert Lukas – denn es ist der Sohn des Menschen, den er unter der Leitung des Heiligen Geistes vor unsere Blicke stellt – mehr als die anderen Evangelisten die tiefe menschliche Schwachheit und vollkommene Abhängigkeit des Herrn: Er ist in ringendem Kampfe5, sein Schweiß fällt wie große Blutstropfen zur Erde, und ein Engel vom Himmel kommt und stärkt ihn.

 

 

Doch was ist Gethsemane? Was bedeutet jener ergreifende Vorgang, dieses einsame Ringen und Kämpfen des Heilandes in stiller Nacht, dies sich bis zu heftigem, inbrünstigem Flehen und starkem Geschrei steigernde Beten des Sohnes Gottes? Was rief diese tiefe Angst und Not in Seiner heiligen Seele hervor? Es war einerseits die Feindschaft des Menschen wider Gott, und andererseits die Macht Satans im Tode – jene schreckliche, finstere Macht, die Satan besaß infolge der Sünde, welche den Tod als gerechten Sold von Seiten Gottes eingeführt hat und Gottes Zorn über den Sündenträger bringen musste. Die Stunde des Menschen war gekommen, und die Macht der Finsternis offenbarte sich mit allen ihren Schrecken. Satan, der im Beginn des Weges Jesu „für eine Zeit“ von Ihm gewichen war, kehrte an Seinem Ende zurück, um Ihn auf eine andere, noch weit ernstere Weise zu versuchen

 

 

5 Es ist bereits von anderer, berufener Seite darauf hingewiesen worden, dass der griechische Ausdruck (genomenos en agonia), den Luther durch: „und es kam, dass Er mit dem Tode rang“, verdeutscht hat, gar nicht diesen Sinn hat. Das Wort „agonia“ bezeichnete zur Zeit der Abfassung des Evangeliums einen heftigen, ringenden Kampf, eine tiefe innere Angst, nicht aber den Todeskampf eines Sterbenden, den Beginn der Auflösung. „Damit aber ist dieser Auffassung des Leidens Christi und allen weiteren daraus sich ergebenden Schilderungen und Folgerungen die letzte Stütze entzogen“. (vgl. D. Dr. Cremer, Gethsemane. Ein Beitrag zum Verständnis der Geschichte Jesu usw.) – Welche Bedeutung; man dem Worte „Agonie“ in späterer Zeit beigelegt hat, kann hier nicht in Betracht kommen.


 

als damals. Wir erblicken in Gethsemane den Mann der Schmerzen, der das, was ihm bevorstand, in seiner ganzen Tiefe fühlte, all die Leiden und Schrecken, die das Ende Seines Weges umgaben, betrachtete und ausmaß, aber mit Gott, Seinem Vater, durch die Stunde der Versuchung ging und keinen Augenblick wankte; dessen Gehorsam bis aufs Äußerste erprobt wurde, der aber selbst in dieser schrecklichen Stunde bewies, dass es sein einziges Begehren war, den Willen des Vaters zu tun.

 

 

Die Leiden des Herrn Jesus in den letzten Tagen Seines Lebens lassen sich von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten. Er litt 1. durch die Anstrengungen Satans, indem Er als Mensch mit ihm, der die Macht des Todes hatte, in den Kampf treten musste, dies aber tat in Gemeinschaft mit dem Vater – das ist Gethsemane. Er litt 2. von Seiten Gottes, indem er für uns in den Riss trat, das Sühnungswerk vollbrachte und als unser Stellvertreter den Kelch des Zornes Gottes trank, den der Vater Ihm gegeben hatte, – das ist das Kreuz, oder genauer das Verlassensein von Gott, die Stunden der Finsternis, am Kreuze.

 

 

Jesus war gekommen, um sich in Gnaden zu uns zu gesellen und an allen unseren Mühsalen teilzunehmen. Durch den Geist geleitet, ließ er sich deshalb auch versuchen. Anfänglich (in der Wüste) versuchte Satan Ihn durch Dinge, die dem Menschen angenehm sind und ihn verleiten können, seinem eigenen Willen zu folgen und, indem er das tut, zu sündigen. Diese Dinge waren: das Bedürfnis zu essen, dann die Welt und ihre Herrlichkeit, und endlich die Erlangung der göttlichen Verheißungen außerhalb des Weges des Gehorsams und im Misstrauen Gott und Seiner Treue gegenüber. Der erste Mensch war der Versuchung erlegen, aber Jesus, der zweite Mensch, bewahrte Seine Vollkommenheit, und es gelang Satan nicht, Ihn von dem Pfade, der dem Menschen Gottes geziemt, abzubringen. „Der Starke“ wurde vielmehr gebunden, und Jesus kehrte in der Kraft des Geistes aus der Wüste zurück, um dem Starken „seinen Hausrat zu rauben“. „Er ging umher, wohltuend und heilend alle, die von dem Teufel überwältigt waren; denn Gott war mit Ihm“ (Apg 10,38). Er war der siegreiche Mensch. Da wo der erste Mensch zusammengebrochen war, hatte er einen vollständigen Sieg errungen. Vor ihm verschwanden alle Wirkungen der Macht Satans: Die unreinen Geister gehorchten seinem Worte, und selbst der Tod war Ihm untertan.

 

 

Aber ach! Alles das veränderte das Herz des Menschen nicht. Er war und blieb in der Gesinnung seines Fleisches in Feindschaft gegen Gott. Sollte er erlöst werden, so musste der Tod eintreten. Der Mensch musste in einen ganz neuen Zustand eingeführt, mit Gott versöhnt werden. Der Gerechtigkeit Gottes musste Genüge geschehen. Die Rechte, die Satan an den Menschen besaß infolge der Sünde, durch die auf Grund des göttlichen Gerichts der Tod gekommen war, mussten vernichtet werden. Gottes gerechtes Gericht über alles, was feindlich gegen Ihn stand, musste in Ausübung kommen. So musste denn die ganze Feindschaft des Menschen wider Gott, ferner die Angst des Todes, betrachtet als Satans Macht und als das Gericht Gottes, die ganze Machtentfaltung Satans, um die Ratschlüsse Gottes zu durchkreuzen, und endlich der Zorn Gottes (in dessen Ertragen, wie schon bemerkt, das Sühnungswerk vollendet wurde) sich auf Jesum vereinigen, und sie haben sich auf Ihn vereinigt. Aber das Lamm Gottes hat sich willig allem unterzogen und Seinen Mund nicht aufgetan vor Seinen Feinden. Welch ein schreckliches Zeugnis dafür, dass die Stunde des Menschen und der Erfüllung seines Willens tatsächlich nichts anderes ist als die Macht der Finsternis! Gottes Stunde in Gerechtigkeit gegenüber dem Menschen dagegen ist der gerechte Zorn, der über Jesum das Verlassensein bringt und am Ende alle die von Gottes Gegenwart ausschließen wird, die in Feindschaft wider ihn stehen.

 

O, welch ein bewunderungswürdiger Beweis des unendlichen göttlichen Erbarmens, dass Christus in Gnaden solches für uns geschmeckt, dass Gott ihn dahingegeben hat, damit wir dem Gericht entrinnen möchten, ja, dass Christus all die genannten Dinge geschmeckt hat, indem er sich eben zu diesem Zweck ohne Flecken Gott opferte! Äußerlich betrachtet, führten die Macht Satans und die Bosheit des Menschen Christum zum Tode und zum Trinken des Kelches des Zornes Gottes. (Tatsächlich ruht ja auch auf dem Menschen die Schuld der Ermordung des Sohnes Gottes, wenngleich niemand imstande war, Ihm das Leben zu nehmen, wie Petrus zu den Juden sagt: „ihr habt Ihn umgebracht“, und Stephanus: „dessen Verräter und Mörder ihr geworden seid“). Aber Christus in seiner Vollkommenheit wusste diese beiden Teile des Leidens völlig voneinander zu trennen und das schreckliche Leiden seitens der Macht Satans im Tode in eine Offenbarung Seines vollkommenen Gehorsams gegen Gott, Seinen Vater, umzuwandeln, weil er mit Gott durch jene ernste Stunde der Versuchung ging und keinen Augenblick in sie hineinkam als in eine Versuchung, die das Aufwachen eines eigenen Willens zum Ergebnis hätte haben können.

 

 

Das also ist Gethsemane. Es ist nicht der Kelch selbst, diesen trank Jesus auf dem Kreuze, sondern die Offenbarung der ganzen Macht Satans im Tode und der Feindschaft des Menschen, der sich sozusagen an Gott rächen wollte – „die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen“; und zwar wird beides vollkommen von Jesu gefühlt, aber zugleich in völliger Abhängigkeit, in gänzlicher Beugung unter den Willen Gottes, zum Vater gebracht. Es ist Christus, wachend, betend, ja, in heißem Kampfe ringend, indem die ganze Macht und das Gewicht des Todes durch Satan auf seine Seele gelegt werden. Diese Macht und dieses Gewicht wurden unendlich vermehrt durch das Gefühl, das Jesus, diese heilige, göttliche Person, von ihnen hatte, denn er wusste, er ermaß vollkommen, was sie vor dem Gott waren, dessen Angesicht Ihm damals noch nicht verhüllt war. Aber er stellte seinen Vater unverrückt vor sich, indem Er alles mit des Vaters Willen in Verbindung brachte, auf diesen sich bezog, ohne einen Augenblick wankend zu werden oder jenem Willen dadurch zu entrinnen zu suchen, dass er einem eigenen Willen nachgegeben hätte. So nahm er nichts aus der Hand Satans an, sondern alles aus der Hand Gottes. Sobald er völlig versichert ist, dass es der Wille des Vaters für ihn war, den Kelch zu trinken, ist alles für ihn entschieden. „Den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?“ (Joh 18,11). Es war jetzt alles eine Sache zwischen ihm und seinem Vater. Sein Gehorsam ist ruhig und vollkommen. Welch ein unaussprechlicher Sieg! In erhabener Ruhe kann Jesus unmittelbar darauf Seinen Feinden entgegengehen und sich ruhig von ihnen binden lassen. Er hat die Kosten in der Gegenwart Gottes völlig überschlagen. Der Kampf ist vorüber, und er nimmt alles aus der Hand seines Vaters. Die Hohenpriester, Pilatus, Herodes, das Volk, die Kriegsknechte – sie alle müssen dieses wunderbare, ergreifende Bild des Lammes Gottes sehen, das still und geduldig in göttlicher Ruhe, in Gemeinschaft mit dem Vater, der Schlachtbank zuschreitet.

 

 

Satan war jetzt ein besiegter, ohnmächtiger Feind. Und die Menschen? Entweder waren sie für den Herrn nur Werkzeuge zur Ausführung des Willens Gottes, oder durch Seine Gnade Erlöste. Sehen wir nur, was sich ereignet, wenn die Häscher kommen. Jesus tritt ihnen entgegen, und wenn er ihnen sagt, wer er ist, fallen sie zu Boden. Er hätte jetzt, wie so oft bei früheren Gelegenheiten, als „seine Stunde noch nicht gekommen war“, ruhig weggehen können. Wer hätte die Hand an Ihn zu legen vermocht? Aber er bietet sich seinen Feinden freiwillig dar, um so sein Werk zu vollbringen, und dann erlaubt er denen, die keine Kraft hatten, sich selbst zu schützen, in Sicherheit wegzugehen. Ach! sie waren nicht fähig, in jenem schrecklichen Augenblick standzuhalten, als es sich entscheiden musste, ob das Gute oder das Böse triumphieren solle, und als die Gerechtigkeit Gottes wider die Sünde der Macht des Todes ihre ganze Kraft lieh und das schreckliche Tun der Menschen, der freiwilligen Sklaven dessen, der die Macht des Todes besaß, dem Geliebten Gottes umso schmerzlicher fühlbar machte. Doch die vollkommene Liebe errang den Sieg, indem Christus als Mensch sich dem Gericht über die Sünde unterwarf, wodurch nunmehr die Gerechtigkeit im Ausschütten der reichsten, jener Liebe entsprechenden Segnungen triumphieren kann. Für alle, die durch Jesum Gott nahen, ist die Sühnung der Sünde jetzt geschehen und die Macht Satans und des Todes für immer vernichtet.

 

 

Welch ein gewaltiger Wechsel trat also mit Gethsemane in der Lage unseres Herrn und Heilandes ein! Bis dahin hatte Er durch Seine göttliche Macht für alle Bedürfnisse Seiner Jünger gesorgt, obwohl er selbst für seinen täglichen Lebensunterhalt anscheinend abhängig gewesen war von einigen Frauen oder von anderen Personen, deren besonderes Vorrecht es war, ihm mit ihrer Habe zu dienen (vgl. Lk 8,3). Aber jetzt sollte er verworfen werden, und zwar von dem Volke, das Er so unaussprechlich liebte, zu dessen Heil er gekommen war. Alle Bemühungen seiner Liebe und Gnade schienen vergeblich gewesen zu sein. „Umsonst habe ich mich abgemüht“, so hören wir ihn klagen, „vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt“ (Jes 49,4). Die Entscheidungsstunde nahte heran. Die Dinge, die ihn betrafen, sollten ihre Vollendung finden nach der Tiefe der Ratschlüsse Gottes. Er sollte der ganzen Wut und Bosheit derer ausgesetzt werden, die sagten: „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Er ist Israels König; so steige er jetzt vom Kreuze herab, und wir wollen an ihn glauben“ (Mt 27,42).

 

 

Es war noch nicht, wie schon weiter oben gesagt wurde, das eigentliche Trinken des Kelches. Das geschah erst auf dem Kreuze. Denn der Kelch, um dessen Vorübergehen er bittet, war nicht das Leiden in Gethsemane, so schrecklich dies war, waren nicht bange Zweifel und Ungewissheit bezüglich des Ausganges,6 aber noch viel weniger „der Eintritt des wirklichen Todes, das Sterben dort unter den Bäumen Gethsemanes, das Fortschreiten des Todeskampfes bis zum Aushauchen der Seele“. Wie völlig unmöglich, ja, wie böse und schriftwidrig diese letzte Annahme ist, haben wir in dem ersten Teil unserer Betrachtung gesehen. Nein, der Kelch, vor dem dem Herrn so bangte, vor dem er so zitterte und bebte, war der Kelch des Zornes Gottes wider die Sünde. Dieser Kelch war es, der dem

 

 

6 Denn das würde heißen, Unglaube und Misstrauen hätten Seine Seele erfüllt, Sein Auge verdunkelt, Sein Herz umnachtet und Seine Gemeinschaft mit dem Vater, wenn auch nur für kurze Zeit, unterbrochen. Er wäre nicht mehr der Vollkommene, der da sagen konnte: „Ich habe Jehova stets vor mich gestellt; weil Er zu meinen Rechten ist, werde ich nicht wanken“ (Ps 16,8). Oder: „Beharrlich habe ich auf Jehova geharrt, und Er hat sich zu mir geneigt und mein Schreien gehört“ (Ps 40,1). Wohl war für Ihn der Gedanke an den scheinbaren Misserfolg all Seiner Bemühungen der Liebe tiefschmerzlich, ein bitterer Wermutstropfen in dem Kelch Seiner Leiden (vgl. die oben angeführte Stelle aus Jes 49). Aber wenn Er davon redet und die Gefühle Seines Herzens dem Vater vorstellt, fügt Er sogleich hinzu: „Doch mein Recht ist bei Jehova und mein Lohn bei meinem Gott“; und: „Ich bin geehrt in den Augen Jehovas, und mein Gott ist meine Stärke geworden“. Niemals hat Sein Vertrauen auch nur für einen Augenblick gewankt. Wenn Johannes der Täufer an Ihm irre wird, wenn Jesus sogar über die Städte Chorazin und Betshsaida und über Kapernaum, „Seine eigene Stadt“, Sein „Wehe“ ausrufen muss, wenn endlich ganz Israel beweist, dass es den ernsten und liebevollen Mahnungen Gottes gegenüber gefühllos und feindselig bleibt, wenn man Johannes den Täufer einen „Besessenen“' und den Sohn des Menschen einen „Fresser und Weinsäufer“ schilt, – erhebt Er Sein Auge nach oben und spricht: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dieses vor Weisen und Verständigen verborgen hast, und hast es Unmündigen geoffenbart. Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig vor dir“ (Mt 11). Ja, selbst auf dem Kreuze, in der furchtbaren, unbeschreiblichen Seelenqual des Verlassenseins von Gott, blieb Sein Vertrauen unerschüttert. Er schrieb Gott nichts Ungereimtes zu. Dem Rufe: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ folgt unmittelbar:

„Doch du bist heilig, der du wohnst unter den Lobgesängen Israels‘ (Ps 22,1. 3).


 

 

vor ihm stehenden Leiden und Sterben einen solch furchtbaren, erschreckenden Charakter verlieh. Neben dem Ertragen der Feindschaft und Ungerechtigkeit der Menschen und der Bosheit Satans galt es, den Kelch des Zornes Gottes zu trinken.

 

 

Auf seinem ganzen Erdenwege hatte der Herr inmitten der Leiden, die ihm von Seiten der Menschen bereitet wurden, Seine Freude daran gefunden, den Willen seines Vaters zu tun. Er hatte für Gott gelitten, und das war süß, köstlich für ihn gewesen. Aber in dem Kelch, der jetzt vor seiner Seele stand, gab es nur tiefe, unvermischte Bitterkeit. Er war gefüllt mit dem Zorne Gottes. Darum bittet er:

„Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“. Darum schüttet er seine heilige Seele „mit starkem Geschrei und Tränen“ vor Gott aus. Wie wäre es möglich gewesen, dass der reine, heilige Mensch, dessen Seele in unausgesetzter, ungetrübter Verbindung und Gemeinschaft mit Gott gestanden hatte und stand, der die Liebe Gottes vollkommen kannte und ungehindert genoss, der sie allein wahrhaft zu schätzen wusste, der zugleich auch die Heiligkeit Gottes und deren Anforderungen in ihrer ganzen Größe und Ausdehnung ermessen konnte, der die Sünde hasste mit vollkommenem Hasse, dessen Wonne es war, in dem Lichte des heiligen Antlitzes Gottes zu stehen und zu wandeln, der deshalb auch allein fähig war, die ganze Schrecklichkeit der Sünde und des Zornes Gottes wider die Sünde zu verstehen – wie wäre es möglich gewesen, dass ein solcher Mensch den Willen hätte haben können, von Gott verlassen zu werden? Im Gegenteil, seine vollkommene Menschheit zeigte sich gerade darin, dass er bittet und immer heftiger und dringender bittet, der Vater möge diesen Kelch an ihm vorübergehen lassen. Alles was in ihm war, bebte vor diesem Kelche, vor den schrecklichen Stunden des Verlassenseins von Gott zurück.

 

 

Der Gedanke an die vor ihm liegende Begegnung mit dem heiligen Gott, als Träger unserer Sünden, ja als das zur Sünde gemachte Opfer auf dem Altar Gottes, erfüllte seine Seele mit einer Betrübnis „bis zum Tode“ und ließ ihn „sehr bestürzt und beängstigt werden“. Die Gewissheit, dass die Wogen und Wellen des göttlichen Zornes über seinem Haupte zusammenschlagen mussten, presste ihm jenen Angstschweiß aus, der wie große Blutstropfen zur Erde fiel.

 

 

Satan, der die Macht des Todes besaß, war es, der dem Heiland in jener Stunde alles das vor die Seele stellte. Gerade durch das Bewusstsein, dass er, der Fürst des Lebens, in den Staub des Todes gelegt, dass er, der die Heiligkeit selbst war, am Kreuze zur Sünde gemacht werden müsse, suchte Satan Angst und Schrecken in seiner Seele wachzurufen und ihn auf dem Wege des Gehorsams und der Erfüllung der Ratschlüsse Gottes zum Stillstehen und Wanken zu bringen. Es war die Stunde der Versuchung, in welcher der Feind den Herrn zu überwältigen trachtete durch den Hinweis auf all die Umstände, vor denen die menschliche Natur als solche zurückbeben musste. Jesus befand sich in einer ähnlichen Lage wie ein Mensch angesichts des Todes, wenn Satan seine ganze Macht darin entfaltet. Nur war er dort in Seiner Vollkommenheit, auf das Äußerste erprobt, aber vollkommen. Er ging durch diese schreckliche Stunde, aber er kam nicht in die Versuchung hinein, in dem Sinne, als habe sie auch nur für einen Augenblick Gewalt über ihn gewonnen. Er wachte und betete, er wandte sich mit Tränen und heißem Flehen zu Dem, der ihn aus dem Tode zu erretten vermochte, und nahm dann alles im Gehorsam aus der Hand des Vaters. Im Blick auf die Umstände und alles das, was die heilige Seele unseres geliebten Herrn niederbeugte, waren Satan und die unter seiner Leitung stehenden Menschen alles. Hinsichtlich des Zustandes seiner Seele waren sie nichts. Da war der Vater alles. Aus Gehorsam gegen ihn nimmt er den Kelch in Frieden. In dem Trinken desselben gab sich jetzt, anstatt der Macht des Feindes, nur vollkommener Gehorsam kund.

 

 

Doch wie ist das Gebet des Herrn: „Nicht mein Wille, sondern der Deine geschehe“, mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass es von jeher der Wille des Herrn war, das Werk der Erlösung zu vollbringen? Liegt darin nicht ein unlöslicher Widerspruch? Nur scheinbar, und nur dann, wenn man das Geheimnis der Person Christi aus dem Auge verliert, wenn man vergisst, dass das Menschliche in ihm wirklich menschlich und das Göttliche wirklich göttlich war. In dem vorhergehenden Abschnitt findet sich ja eigentlich schon die Antwort auf diese Frage. Indes mag es gut sein, noch einen Augenblick dabei zu verweilen.

 

 

Christus war sich dessen völlig bewusst, was geschehen sollte, was vor ihm lag. Er wusste sehr wohl, dass es keine andere Möglichkeit gab, das Werk, das er zu tun gekommen war, zu vollbringen, als nur dadurch, dass er den Kelch des Zornes Gottes trank. Aber vor diesem Kelche, vor dem Leiden und Sterben um der Sünde willen, graute ihm, bebte er zurück. Eine Art Vorspiel dieses Kampfes erblicken wir schon in Joh 12. Dort wird der Herr durch das Kommen der Griechen daran erinnert, dass die Verherrlichung des Sohnes des Menschen nur stattfinden konnte auf Grund seines Todes. Das Weizenkorn musste in die Erde fallen und sterben. Der Ausblick auf diesen Tod, die finsteren Schatten, die das Kreuz schon auf Seinen Weg vorauswarf, veranlassen ihn zu dem Rufe: „Vater, rette mich aus dieser Stunde!“ Seine Seele war bestürzt, und diese Bestürzung machte sich in jenen Worten unwillkürlich Luft. Aber unmittelbar darauf folgt der Ausdruck Seiner Bereitwilligkeit, alles für die Verherrlichung des Vaters zu erdulden: „Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen!“

 

 

Dasselbe, nur in unendlich verstärktem Maße, finden wir in Gethsemane. Die „Stunde“ war jetzt ganz nahe gekommen, und die Frage galt: Wird der Sohn des Menschen in die Versuchung hineingehen, das will sagen, wird er einem eigenen Willen Raum geben und folgen, indem er wünscht, dem Tode und dem Kelch des Zornes Gottes, des Gerichts über die Sünde, zu entrinnen? Oder wird er, anstatt sich selbst zu schonen, in dieser Stunde nur einen Anlass zum Gehorsam finden? Für ihn war ja Gehorchen, so schrecklich die Leiden sein mochten, die Freude, der Odem seiner Seele. Das Gericht Gottes nicht fürchten, wäre Gefühllosigkeit gewesen. Ihm entrinnen wollen, hätte geheißen, dem Willen des Vaters ausweichen, diesen Willen nicht tun und somit auch das Werk der Erlösung, in welchem Gott sich völlig als Licht und Liebe offenbaren sollte, unerfüllt lassen. Christus geht durch diesen Kampf in völliger Unterwürfigkeit unter den Willen Gottes. Was wir in diesem Augenblick bei ihm, als Mensch betrachtet, sehen, ist Schwachheit, vollkommene menschliche Schwachheit, aber gerade in dieser Schwachheit besteht die wahre Kraft. Er betet, und zwar mit dem Ausdruck der tiefsten Abhängigkeit: Er fällt auf Sein Angesicht. Dann erscheint, nach dem Bericht des Evangelisten Lukas, ein Engel aus dem Himmel und stärkt Ihn. Worin diese Stärkung bestand, welcher Natur sie war, steht uns nicht zu, zu erörtern. Gott sagt es uns nicht, und wir haben deshalb kein Recht, Behauptungen darüber aufzustellen. Der Vorgang selbst ist so einfach und natürlich wie möglich. Jesus war ein Mensch, voll und ganz ein Mensch, der in schwerem Kampfe der Stärkung von oben bedurfte, und diese wird Ihm zuteil. Lasst uns dabei stehen bleiben und nicht über die Grenze hinausgehen wollen, die Gott uns gesteckt hat. Wäre Jesus nicht vollkommen, wahrhaftig Mensch gewesen, ein Mensch, der in allem versucht worden ist wie wir, ausgenommen die Sünde, so hätte die Befreiung des Menschen aus Satans Macht und aus den Banden des Todes und der Sünde nicht zur Wirklichkeit werden können.

 

 

Je mehr das Böse, mit dem der Herr zu tun haben sollte, in seiner ganzen Schrecklichkeit vor seine Seele tritt, je näher und eindringlicher er den Kelch betrachtet, den er trinken sollte, desto größer wird der Druck, desto tiefer die Angst. Aber dieser ringende Kampf, dieses überwältigende Ergriffensein, diese unsagbare Not des Herzens, deren höchste Steigerung sich in dem Schweiß kundgibt, der wie große Blutstropfen zur Erde fällt, drückt sich nur in einem umso heftigeren Beten und Flehen aus. Seine Seele klammert sich umso fester an Gott, und nachdem er durch das Tal des Todesschattens völlig hindurchgegangen ist und den Ansturm der Macht Satans überstanden hat, erhebt er sich siegreich und völlig bereit, den Kelch zu trinken, den Sein Vater Ihm geben will. „Mein Vater, wenn dieser Kelch nicht an mir vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille“. Fortan hören wir nichts mehr von Kämpfen, Wachen und Beten. Alles ist ruhige, willige, ergebene Unterwerfung unter den Willen Gottes. Eine vollkommene Stille kennzeichnet das Kreuz, eine Stille der Finsternis zwar, in die das Auge des Menschen nicht einzudringen vermag, aber eine Stille zugleich, die zeigt, dass die Unterwerfung vollkommen ist.

 

 

Es ist bemerkenswert, dass die Verse 43 und 44 in Lk 22 in mehreren alten Handschriften fehlen. Die Ursache liegt auf der Hand. Die Abschreiber haben gemeint, die Stelle gehe zu weit, sie mache Christum zu sehr zu einem Menschen. Aber gerade dieser Umstand verleiht den Versen ihren wahren Wert. Wir haben schon wiederholt darauf hingewiesen, dass Christus in dem Evangelium des Lukas vornehmlich in Seinem Charakter als Mensch betrachtet wird. In keinem anderen Evangelium finden wir den Herrn so oft im Gebet wie hier. So wurde ihm, nach Seiner Taufe durch Johannes, der Himmel aufgetan, als Er betete (Kap. 3, 21). Gelegentlich bei seiner Verklärung auf dem heiligen Berge lesen wir: „Und indem er betete, wurde das Aussehen seines Angesichts anders usw.“ (Kap. 9, 29; vgl. auch V. 18). Auch vor der Erwählung Seiner zwölf Jünger verharrte er eine ganze Nacht im Gebet (Kap. 6, 12). So tritt denn auch in dem Bericht des Lukas über Gethsemane dieser Charakter des Herrn ganz besonders hervor. Es ist Christus, geoffenbart in der ganzen Schwachheit der menschlichen Natur, dem Ansturm des Feindes und allen Schrecken jener Stunde ausgesetzt, aber zugleich jene wunderbare, göttliche Person, in sich selbst völlig rein und heilig, an die der Tod keine Ansprüche hatte, über die er keinerlei Gewalt besaß. Es ist Christus, der „in den Tagen Seines Fleisches sowohl Bitten als auch Flehen zu dem, der ihn aus dem Tode zu erretten vermochte, mit starkem Geschrei und Tränen geopfert hat“, und der zugleich Sein Leben freiwillig ließ, indem keine Macht der Welt oder der Hölle imstande war, es ihm zu nehmen. – Das klingt vielleicht wunderlich und widerspruchsvoll für ein unbeschnittenes Ohr, unannehmbar für den Verstand der Menschen, aber für den Glauben ist es das herrliche, wunderbare Geheimnis von der Person unseres hochgelobten Herrn. Er erfreut sich darin, er schaut‘s und betet an.

 

 

An dieser Stelle mögen noch einige kurze Bemerkungen eines anderen Schreibers über die Vorgänge in Gethsemane einen Platz finden. Er sagt: „Im Evangelium Matthäus sehen wir Christum vor allem als das Opfer. Überall tritt uns in wunderbarer Weise Seine völlige Unterwürfigkeit entgegen, aber gleichzeitig, und das ist bemerkenswert, die Tiefe Seiner Leiden. Wenn er an den Kelch denkt, so ruft Er aus: „Wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“. Lukas berichtet uns, dass Sein Schweiß wie große Blutstropfen zur Erde fiel. Er war ein Mensch, aber Sein Gefühl von der Schrecklichkeit des Zornes Gottes war vollkommen. In demselben Maße wie Er wusste, was es ist, heilig zu sein, fühlte er auch, was es hieß, vor Gott zur Sünde gemacht zu werden. In demselben Maße wie er die Liebe Gottes kannte und genoss, fühlte er auch, was es war, von Gott verlassen zu sein. In diesem Sinne war Sein Leiden ohne Grenzen, und indem er in Gemeinschaft mit Seinem Vater den Kelch betrachtete, rief er aus: „Wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“.

 

Seine Seele durchmaß diese gewaltigen Tiefen, und indem sie es tat, wurde sein Schweiß wie große Blutstropfen, die zur Erde fielen. Wenn Er aber nachher zu den Jüngern zurückkommt, finden wir keine Spur mehr von diesem schrecklichen Kampfe. Er redet so liebevoll mit ihnen, indem er auf ihre Gedanken eingeht, als ob der Kelch überhaupt nicht da wäre. „Also nicht eine Stunde vermochtet ihr mit mir zu wachen?“ fragt er sie. Wie wunderbar ist das! In dem ganzen Leben des Herrn suchen wir vergebens nach einem Falle, wo die Umstände Ihn beherrscht hätten. Er blieb stets er selbst und war allezeit (ausgenommen in jenen drei schrecklichen Stunden, als er von Gott verlassen war) voll von Mitgefühl und Teilnahme für andere. Was seine eigenen Leiden betrifft, so wurde er wie ein Schaf zur Schlachtung geführt. Wie ein Lamm stumm ist vor seinem Scherer, also tat er Seinen Mund nicht auf. Selbst vor Pontius Pilatus sagte er nichts. Ja, Er war stumm, außer wenn es galt, jemand Gnade und Liebe zu erzeigen. Dann offenbarte er, als wäre nichts vorgefallen, vollkommene Güte und vollkommenes Mitgefühl für alle. Obwohl er die Schrecknisse, die vor Ihm lagen, in ihrer ganzen Größe kannte und fühlte, sehen wir ihn doch völlig unterwürfig. Er fühlte sie in Gemeinschaft mit dem Vater, und darum konnte er sich auch mit völliger Ruhe und Teilnahme den Jüngern zuwenden. 

 

Andererseits wünschte Er ihr Mitgefühl: „Bleibet hier und wachet mit mir“. Er war „Gott über alles“, und doch voll und ganz ein Mensch, mit menschlichen Gefühlen und Bedürfnissen, aber niemals forderte er Seine Jünger auf, für Ihn zu beten. Das wäre nicht in Übereinstimmung gewesen mit dem, was er war. Es ist ein sehr köstlicher Gedanke, dass er, der bei Gott war und Gott, geoffenbart im Fleische, in allem fühlte, wie ein Mensch fühlt. Als er Seinen Jüngern sagte: „Wachet mit mir“, fühlte er, dass die Welt wider ihn war, und wünschte, dass die, welche Ihn stets begleitet hatten, bei Ihm sein möchten. Aber ach, sie schliefen! Er wartete auf Mitleid, und da war keines, auf Tröster, und er fand sie nicht. Nichts wurde Ihm hienieden zuteil. Er wurde geübt und geprüft bis zu dem höchsten Grade menschlichen Leidens, aber er war allein in dem ringenden Kampfe. . . . 

 

„Während die Jünger schliefen, war Jesus allein, ganz allein mit seinem Vater, und ging im Geiste mit ihm durch die vor Ihm liegenden Schrecknisse. Um die göttliche Antwort betreffs des Kelches endgültig zu vernehmen, betete Er: „Wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst“. Ach! es war nicht möglich, dass der bittere Kelch ihm erspart wurde. „Und als er in ringendem Kampfe war, betete er heftiger. Es wurde aber sein Schweiß wie große Blutstropfen, die auf die Erde herabfielen“. Welch ein Kampf! Wer könnte ahnen, was in dieser Stunde in dem Herzen unseres anbetungswürdigen Heilandes vorging? Und doch, wie schon weiter oben bemerkt, gleich nachdem Er in diesem furchtbaren Kampfe gewesen war, kehrte er zu Seinen Jüngern zurück und redete mit ihnen in der freundlichsten Weise. Sie waren vor Traurigkeit eingeschlafen. „Und er sprach zu ihnen: Was schlafet ihr? Stehet auf und betet, auf dass ihr nicht in Versuchung kommet“. 

 

„Wie wunderbar! Der Herr denkt jetzt nicht mehr an den Kelch, sondern nur an sie! Wo war der Kelch? Er hatte ihn aus der Hand des Vaters genommen, und deshalb war Sein Herz zum Dienst für andere fähig; ja, selbst in dieser schrecklichen Stunde war er zu jedem Dienst bereit (vgl. Lk 22,50+51). Würden wir in unserem geringen Maße alle unsere Übungen, unsere kleinen Kümmernisse zu Gott bringen; um mit Ihm durch alles hindurchzugehen, so wären auch unsere Herzen frei und glücklich, um uns anderen zuzuwenden und für sie Sorge zu tragen. Jesus ging im Geiste mit Gott vollkommen durch die Tiefen Seines Leidens, und eben aus diesem Grunde konnte er nachher voll Frieden sich den Jüngern zuwenden und ihnen zurufen: „Wachet und betet, auf dass ihr nicht in Versuchung kommet“.

  

Er fühlte, wo er sich befand, aber dies ist das einzige Mal, dass er jenem Gefühl Ausdruck gab durch die Worte: „Wachet und betet!“ Alles was uns begegnet, wird uns entweder zu einer Versuchung, oder zu einer Gelegenheit zum Gehorsam. Für Christum war alles eine Gelegenheit zu vollkommenem Gehorsam. Er sagt: „Der Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?“ (Joh 18,11). Alles was uns entgegentritt, wird entweder zu einer Sache, in der wir Christo dienen, oder zu einer Gelegenheit, unseren eigenen Willen zu tun. Und den tun, heißt in Versuchung kommen“.

 

 

Zum Schluss möchte ich nur noch kurz hinweisen auf die äußeren Umstände, die den Kampf und das Leiden des Herrn in Gethsemane erschwerten und vertieften. Sein Weg durch diese Welt war vollendet, die Stunde war gekommen, dass er zu dem Vater zurückkehren sollte. Aber der nächste Zweck Seiner Sendung war nicht erfüllt: Jakob war nicht zu Gott zurückgebracht und Israel nicht gesammelt worden. Vergeblich hatte er den ganzen Tag Seine Hände ausgestreckt nach einer widerspenstigen Nation. Nur ein ernstes, schonungsloses Gericht blieb jetzt für das so innig geliebte Volk übrig. Welch ein Schmerz das für das Herz des Messias war, ersehen wir aus Stellen wie Lk 13,34+35; 19,41–44 und anderen. Und nicht nur das, dieses Volk sollte jetzt das Maß seiner Sünden voll machen in der Verwerfung und Ermordung des Sohnes Gottes, dessen Herz brach angesichts ihres bitteren Hohnes und Spottes. Psalm 69,20+27 sollte sich erfüllen.

 

 

Doch mehr noch: Alle seine Jünger sollten sich in dieser Nacht an ihm ärgern und ihn ganz allein lassen. Einer von ihnen würde Ihn verraten, ein anderer ihn verleugnen. Selbst die Genossen Seiner Verklärung auf dem Berge sollten sich als unfähig erweisen, auch nur eine Stunde mit Ihm zu wachen. So weit reichte ihre Liebe zu ihm nicht. Der Mann Seines Friedens, auf den er vertraut, der so lange sein Brot gegessen hatte, erhob seine Ferse gegen Ihn, verkaufte Ihn für einen elenden Preis an Seine Feinde und verriet ihn mit einem Kuss! (Ps 41). Keiner verstand ihn, niemand fühlte mit ihm. Einsam und allein, von allen verlassen, musste er Seinen Leidensweg gehen. „Ich gleiche dem Pelikan der Wüste“, so hören wir ihn klagen im 102. Psalm, „bin wie die Eule der Einöden. Ich wache, und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dache“; und im 88. Psalm: „Freund und Genossen hast du von mir entfernt, meine Bekannten sind Finsternis“. Wie sehr verlangt die Schwachheit der menschlichen Natur nach einem mitfühlenden Herzen, nach einem Wort des Trostes und der Ermunterung, wenn schwere Stunden kommen, wenn die Zukunft dunkel und drohend vor uns liegt! Kann auch niemand das Leid abwenden, muss auch der Kelch getrunken werden, wie wohltuend ist doch ein mitfühlender Blick, ein liebevoller Händedruck, ja, schon die bloße Gegenwart eines menschlichen, fühlenden Wesens! Jesus war ganz allein! Seine Jünger schliefen, schliefen immerzu, trotz der herzlichen Bitte des Heilandes, nur eine Stunde mit Ihm zu wachen. Jesus war gekommen als der König Israels, als der wahre Sohn Davids, dem alle Rechte an Sein Land und Volk wie an die Verheißungen gebührten. Er war die Wurzel und das Geschlecht Davids, den David selbst im Geiste „Herr“ genannt hatte. Aber er musste allem entsagen. Statt eines königlichen Diadems sollte eine Dornenkrone Sein Haupt zieren. Statt königlicher Ehren sollten Ihm Faustschläge, Backenstreiche, Geißelhiebe, „Schmach und Speichel“ zuteil werden. Zum Spott sollte er mit purpurnem Gewande bekleidet, und statt des Zepters sollte Ihm ein Rohr in die Rechte gegeben werden. Statt des „Hosianna dem Sohne Davids!“ sollte das „Kreuzige, kreuzige!“ ertönen. Den Thron Davids sollte er mit dem Fluchholze vertauschen. Der Kreuzestod, die schrecklichste, grausamste und qualvollste aller Todesarten, stand ihm bevor, und unter Räubern und Missetätern war sein Platz bestimmt. Und wo und von wem sollte er alles erdulden? In dem Hause derer, die Ihn liebten, sollte Er geschlagen werden (Sach 13,6). Sein eigenes Volk würde Ihn ermorden! Dessen Leiter würden sich freuen an dem bitteren Spott des Herodes, an der Ungerechtigkeit des Pilatus, an der Grausamkeit der Kriegsknechte, und endlich an seinem Kreuze vorübergehen und den Kopf über ihn schütteln, der doch ihr Gott und Heiland war!

 

 

O, wer könnte ermessen, was das vollkommen menschliche Herz unseres Herrn und Heilandes gelitten hat, als alles das auf Ihn einstürmte, als Satan Ihm alle diese Dinge vor die Seele stellte! Welch eine Versuchung, welch ein Kampf! Und alles kam über Ihn, obwohl er Sohn war, der geliebte Sohn Gottes, die Wonne des Vaters, der Gegenstand der Anbetung der himmlischen Heerscharen, der da sagen konnte: „Ehe Abraham ward, bin ich“, und: „Brechet diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten“ (Joh 8,58; 2,19).

 

 

Dies führt uns zu dem herrlichen, aber leider auch so vielfach missverstandenen Ausspruch des Apostels In Heb 5,8, dass er, „obwohl er Sohn war, an dem, was er litt, den Gehorsam lernte“. Gehorchen war eine ganz neue Sache für den Sohn Gottes. Nie hatte er in der Ewigkeit Gelegenheit gehabt, zu gehorchen. Gehorsam bedingt eine Stellung der Abhängigkeit von einem anderen, aber der Sohn Gottes war nicht in dieser Stellung, in diesem Verhältnis. Er war der Schöpfer, Herr und Gott über alles, der Höchste, der Gebieter. Aber als er in diese Welt kam und Knechtsgestalt annahm, lernte er Gehorsam, und zwar an dem, was er litt. Sein ganzer Pfad von der Krippe bis zum Kreuze war ein unaufhörliches Leiden, eine ununterbrochene Kette von Erprobungen Seines Gehorsams in der Stellung der Abhängigkeit, in die er aus Gnaden eingetreten war. Der Pfad des Gehorsams durch eine sündige Welt, wo Satan regiert, ist Leiden. Und immer ernster wurden die Proben für unseren geliebten Herrn, immer heißer die Versuchungen, die von außen7 an ihn herantraten, bis sie endlich in Gethsemane ihren Höhepunkt erreichten. Aber lieber wollte er alles erdulden, lieber verachtet, verworfen, verhöhnt und verspottet werden, lieber den Tod erleiden, selbst wenn dieser unter dem Charakter des Zornes Gottes und des Gerichts wider die Sünde an Ihn herantrat, als ungehorsam sein. Lieber wollte Er den bittersten Kelch trinken, lieber „in die Grube des Verderbens, in kotigen Schlamm“, hinabsteigen (o, was musste das für seine heilige Seele sein! – und wäre er nicht hinabgestiegen, so würde sie noch auf unserem Wege liegen), als den Willen Seines Vaters unerfüllt lassen und Ihn nicht völlig und in jeder Beziehung verherrlichen. Alle Proben und Versuchungen brachten nur Seinen vollkommenen Gehorsam zum Vorschein. Er litt unendlich, unaussprechlich, aber nie begegnete eine Versuchung irgendeiner Regung des eigenen Willens, nie fand sie den schwächsten Anknüpfungspunkt in Seinem Innern. Ja, wenn selbst die ganze Macht des Bösen, des Todes und Satans sich vereinigte, um Ihn zur Zurückweisung des schrecklichsten Kelches zu veranlassen, der auf dem Pfade des Gehorsams für ihn lag, und der unser Heil und die Verherrlichung Christi als Mensch in sich schloss, wenn Satan die höchsten Anstrengungen machte, um ihn zu Fall zu bringen, klammerte er sich nur umso fester und inniger an Gott, um nicht in die Versuchung zu kommen, sondern den Pfad des Gehorsams zu verfolgen, mochte er ihn auch in die tiefsten Abgründe der Leiden hinabführen.

 

 

Und in dieser Hinsicht ist Christus auf Seinem ganzen Wege, ja selbst in Gethsemane, so unendlich und unbegrenzt; auch Seine Leiden waren – im Vergleich mit den unsrigen – ein Vorbild für uns. Auch wir haben zu wachen und zu beten, ja, vielleicht im Gebet zu ringen, um nicht in Versuchung

 

7 Innerlich gab es keine Versuchung für Ihn, denn Er war ohne Sünde, heilig und rein. Er ist in allem versucht worden wie wir, ausgenommen die Sünde. Sie fand nie und nimmer Eingang in Seinem Herzen.


 

zu kommen, nicht in sie hineinzugehen. Zuweilen, wenn z. B. eine Drangsal, eine Schwierigkeit über uns kommt infolge eigener Schuld (bei Christo war es selbstverständlich stets andere Schuld), kann es gar schwierig werden, sich den Wegen Gottes willig zu unterwerfen. Dasselbe ist der Fall, wenn der Weg des Gehorsams, der Aufrichtigkeit, mit einem Wort der Pfad des Lebens, in irgendeiner Weise peinlich, schmerzlich wird. Vielleicht liegt gleich neben ihm ein viel leichterer Pfad, ein Pfad, der dem Auge des Fleisches sehr verlockend erscheint. Dann ist es in unseren kleineren Prüfungen und Schwierigkeiten auch unser Teil, zu wachen und zu beten, dass wir nicht in Versuchung kommen. Der Weg des Lebens ist stets ein mühsamer Pfad, der das Herz auf die Probe stellt (vgl. Ps 16). Aber Gott wird auf ihm gefunden, und sein Ausgang ist zur Verherrlichung Gottes und herrlich für uns. Möge Gott uns auf diesem Wege erhalten! Wir bedürfen dazu Seiner Gnade. Zuweilen mag selbst ein Ringen im Gebet in Seiner Gegenwart nötig werden, um standzuhalten und auszuharren. Aber er, der überwunden hat, ist mit uns. Und wenn wir mit Gott durch das Peinliche und Beunruhigende der Umstände hindurchgegangen sind, so werden diese selbst, wenn sie wirklich eintreten, nur zu einer Gelegenheit werden, unseren Gehorsam zu beweisen. So war es in Vollkommenheit mit Christo, unserem herrlichen Vorbilde, und in demselben Maße wie wir Seinem Beispiel folgen, werden wir in unserem praktischen Leben Ihm ähnlicher werden und nach unserem geringen Teile dieselben Erfahrungen machen dürfen wie Er, zu Gottes Ehre und Herrlichkeit.

 


  

 

Die Erhörung

 

„Der in den Tagen Seines Fleisches, da Er sowohl Bitten als Flehen Dem, der Ihn aus dem Tode zu erretten vermochte, mit starkem Geschrei und Tränen dargebracht hat und um seiner Frömmigkeit willen erhört worden ist“ ( Heb 5,7).

Es bleibt uns noch die Erwägung der Frage übrig, in welcher Weise Christus Erhörung Seines Flehens gefunden hat. Dass die oben angeführte Stelle mit Recht auf den Kampf in Gethsemane angewandt wird, unterliegt keinem Zweifel. Eine Meinungsverschiedenheit besteht wohl nur über die Art der Erhörung, dass Bitte und Erhörung nicht Bezug haben können auf eine „Rettung vom Sterben in Gethsemane“, nicht darauf, „dass der Vater Ihn nicht hier sterben und der Schwachheit des Fleisches erliegen lassen möge“, das bedarf nach dem bisher Gesagten keiner Erörterung mehr.

 

 

Der Tod, aus dem Gott Seinen Geliebten zu erretten vermochte, ist der Tod am Kreuze, der Tod als Folge des Gerichts Gottes über die Sünde. Hier tritt uns wieder das Geheimnis der Person des Sohnes Gottes in seiner ganzen Unfassbarkeit für den Verstand des Menschen entgegen. Christus ließ Sein Leben freiwillig und nahm es wieder in der Macht und Würde Seiner göttlichen Person. Aber zu gleicher Zeit musste Er als unser Stellvertreter sterben, musste Er den Tod erleiden als das gerechte Gericht Gottes über die Sünde. Alle Forderungen der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes mussten durch Ihn, den Menschen Christus Jesus, (aber dieser Mensch war Gottes Sohn), befriedigt werden. Das Schwert musste erwachen wider den Genossen Jehovas (Sach 13,7). Er musste Sein Haupt neigen unter den furchtbaren Schlägen des göttlichen Zornes. Indem Er die Sache des Sünders, unsere Sache, auf sich nahm, konnte Er sich selbst nicht retten. Nur einer war fähig, das zu tun, und dieser Eine war Gott. Aber Er wollte sich selbst auch nicht retten. Er war gekommen, um zu leiden und zu sterben. Er wusste genau, (denn Er, der Heilige, konnte es voll und ganz ermessen), in welcher Stellung der sündige Mensch sich Gott gegenüber befand, und Er war bereit, sich den Folgen dieser Stellung zu unterziehen. Er unterwarf sich allem, Er gehorchte in allem. Er war vollkommen in seinem Gehorsam und in Seiner Abhängigkeit von Gott. Das war „Seine Frömmigkeit“, um derentwillen er erhört wurde. Gott, der Heilige Gott, musste die Rechte Seiner Herrlichkeit denen gegenüber, die gegen ihn gesündigt und seine Herrlichkeit mit Füßen getreten hatten, aufrecht erhalten. Es geziemte ihm, den, der die Sache der Sünder (der Söhne, die Er zur Herrlichkeit führen wollte) in Seine Hand nahm, so zu behandeln, als wäre er selbst in der Stellung und in dem Zustande, in welchem jene sich befanden. Nur so konnte Christus als „der Anführer ihrer Errettung“ zur Vollkommenheit gelangen, d. h. nur so konnte Er ein vollkommener Erretter für sie werden. Die Tatsache Seiner unveränderlichen persönlichen Vollkommenheit wird hierdurch selbstverständlich in keiner Weise berührt.

 

 

Welche Tiefen tun sich da vor unseren Blicken auf! In diesen Tod, als Sold der Sünde, musste Jesus hinein! Wir können es verstehen, wenn Er bei dem Gedanken daran Bitten und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen zu Dem empor sandte, der Ihn aus dem Tode zu erretten vermochte. Er musste das ganze Gewicht dieses Todes auf Seiner heiligen Seele fühlen, aber um Seiner Frömmigkeit willen ist Er erhört worden. Unmöglich hätte Gott Sein Flehen unbeantwortet lassen können. Ein Engel kam und stärkte Ihn, und als der Kampf ausgestritten war, stand Er auf in vollem Frieden, als Einer, der Erhörung gefunden hatte, der da wusste, dass Er nicht würde beschämt werden, dass der Tod Ihn nicht behalten könne. „Denn meine Seele wirst du dem Scheol nicht lassen, wirst nicht zugeben, dass Dein Frommer die Verwesung sehe. Du wirst mir kundtun den Weg des Lebens; Fülle von Freuden ist vor deinem Angesicht, Lieblichkeiten in deiner Rechten immerdar“ (Ps 16,10+11). So hatte der Geist Christi, der in den Propheten war, schon viele Jahrhunderte früher geredet, und so ist es in Erfüllung gegangen. „Wenn Seine Seele das Schuldopfer gestellt haben wird, so wird Er Samen sehen, Er wird Seine Tage verlängern; und das Wohlgefallen Jehovas wird in Seiner Hand gedeihen. Von der Mühsal Seiner Seele wird Er Frucht sehen und sich sättigen . . . Darum werde ich Ihm die Großen zuteil geben, und mit Gewaltigen wird Er die Beute teilen: dafür dass Er Seine Seele ausgeschüttet hat in den Tod und den Übertretern beigezählt worden ist“ (Jes 53,10–12).

 

 

„Nicht wie ich will, sondern wie Du willst“ – auch in dieser Beziehung hat Er Erhörung gefunden. Wenngleich Seine reine, fleckenlose Seele erbebte bei der Voraussicht, als „Sünde“ (als dieser Gräuel in Gottes und Christi Augen) behandelt zu werden, wenngleich Er aus tiefstem Herzensgrunde flehte:

„Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!“ war und blieb doch allezeit Sein Wille in völliger Übereinstimmung mit dem Willen des Vaters, und dieser Wille ging in herrlichster Weise in Erfüllung. Es war bei Jesu nicht nötig, wie so oft bei uns, dass ein eigener, dem Willen Gottes entgegen gesetzter Wille gebrochen werde, dass Er lerne, sich in den guten Willen Gottes zu ergeben. Ein solcher Wille war bei Ihm nie vorhanden. Wie der scheinbare Widerspruch, der in den Worten des Herrn liegt, sich löst, haben wir in dem zweiten Teil unserer Betrachtung ausführlich behandelt.

 


 

 

Jesu Leiden auf dem Kreuz

„Doch Jehova gefiel es, Ihn zu zerschlagen; er hat Ihn leiden lassen“ ( Jes 53,10).

„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“ ( Psalm 22,1).

„Doch Du bist heilig“ ( Psalm 22,3).

 

Lasst uns jetzt noch einen Augenblick bei den Leiden des Herrn auf dem Kreuze verweilen. Sie gehören zwar nicht unmittelbar zu unserem Gegenstand, sind aber doch so nahe mit ihm verbunden, dass eine wenigstens kurze Betrachtung derselben kaum zu umgehen ist.

 

 

Die Leiden des Herrn am Kreuze lassen sich wiederum von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten. Er litt einerseits von Seiten der Menschen, hinter denen Satan stand, für Gott um der Gerechtigkeit willen, als der treue Zeuge Gottes, und Er litt andererseits von Seiten Gottes für den Menschen um der Sünde willen, als das Opferlamm Gottes. Die erste Art Leiden erblicken wir vornehmlich in den ersten drei Stunden, obwohl sie ohne Zweifel die ganze Zeit hindurch währten bis an Seinen Tod. Die zweite Art begann erst mit der vierten Stunde, mit dem Eintritt der Finsternis. Das ist ein überaus wichtiger Punkt, der nicht stark genug hervorgehoben werden kann. Bleibt er unbeachtet, so ist ein wahres Verständnis der Kreuzesleiden unmöglich. Inmitten der ersten Art Leiden war die Verbindung des Herrn mit Gott in keiner Weise unterbrochen. Er schaute unausgesetzt das freundliche, erquickende Licht des Angesichts Gottes. Er konnte sich an Ihn wenden mit den Worten: „Du aber, Jehova, sei nicht fern von mir!“ indem alle Feindschaft und Bosheit, die Ihm widerfuhren, Ihn nur auf Gott warfen. Zugleich hören wir Ihn beten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Aber dann kam das Verlassensein von Gott. Sollte Er für uns ein Opfer werden, so mussten unsere Sünden auf Ihn gelegt und Er so behandelt werden, als wäre Er in unserem sündigen, verderbten Zustande, und wenn das geschah, so musste der heilige Gott Sein Angesicht vor Ihm verbergen, musste Ihn verlassen.

 

 

Die Leiden Christi von Seiten der Menschen, der Werkzeuge Satans, waren deshalb, so schwer und unerträglich sie sein mochten, nur die Einleitung zu Seinem eigentlichen Leiden. Gott selbst, der bis dahin Sein Trost und Seine Kraft gewesen war, verließ Ihn und wurde so die Quelle des tiefsten Wehes für den Heiligen und Gerechten, der außer der Gemeinschaft mit Gott nichts kannte, was ihn erfreuen konnte, und der nun litt entsprechend der Vollkommenheit jener Gemeinschaft, die Er einst genossen hatte und die jetzt unterbrochen war.

 

Was in diesen drei schrecklichen Stunden in der Seele unseres Herrn vorging, haben die Evangelisten uns nicht berichtet. Während sie die vorhergehenden Ereignisse ausführlich erzählen, schweigen sie völlig über die tiefen Übungen und Qualen, durch die Jesus in der letzten Hälfte Seines Kreuzesleidens ging. Aber das, was sie nicht zu berichten vermochten, weil es in der tiefen Verborgenheit dieser entsetzlichen Stunden zwischen Gott und Christo allein vorging, schildert uns der 22. Psalm in ergreifender Weise. Da hören wir die bitteren Klagen Dessen, der um unsertwillen so unsäglich litt, Sein angstvolles Schreien zu Gott, ohne für jenen Augenblick Antwort, Erhörung finden zu können. Äußerlich herrschte völliges Schweigen auf Golgatha während dieser Stunden. Selbst die Schöpfung hatte sich in Finsternis und Schweigen gehüllt. Die Jünger waren geflohen, und die Weiber, die Jesum liebten, standen angsterfüllt zitternd von ferne. Jesus litt, wie Er noch nie gelitten hatte, litt ganz allein. Er litt schweigend, bis Er zur neunten Stunde, am Ende dieses namenlosen Leidens, in den Ruf ausbrach: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wir haben das Vorrecht, sind gewürdigt worden, das zu vernehmen, was in jenen Stunden in der Seele Jesu vorging. Zwar vermag niemand die Tiefen dieser Leiden zu ergründen. Gott allein kann ihre ganze Schrecklichkeit verstehen und ihren ganzen Wert ermessen. Aber es ist uns geschenkt, Sein Flehen zu vernehmen und Seinen Klagen zu lauschen, damit wir voll Bewunderung und Anbetung uns vor Ihm niederwerfen, der gerade dann am größten war, als Er am tiefsten erniedrigt wurde.

 

 

Der Kampf in Gethsemane war schwer, aber er war nur ein Vorgeschmack dessen, was dem Herrn am Kreuze bevorstand. Hier musste Er unser Stellvertreter werden und als solcher von Gott behandelt werden. „Den, der Sünde nicht kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht“ (2. Kor 5,21). Der Kelch des Zornes, der in Gethsemane vor Ihm stand, musste hier bis zur Neige getrunken werden. Die wirklichen Wehen des Todes mussten geschmeckt werden, und zwar von einem Menschen, der Ihn verstand und fühlte, so wie Gott Ihn versteht, und der nun ausruft: „Wie Wasser bin ich hingeschüttet, und alle meine Gebeine haben sich zertrennt; wie Wachs ist geworden mein Herz, es ist zerschmolzen inmitten meiner Eingeweide. Meine Kraft ist vertrocknet wie ein Scherben, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen; und in den Staub des Todes legst Du mich“ (Ps 22). Oder: „Auf mir liegt schwer Dein Grimm, und mit allen Deinen Wellen hast Du mich niedergedrückt . . . Deine Zorngluten sind über mich hingegangen, Deine Schrecknisse haben mich vernichtet“ (Ps 88).

 

 

O, wer könnte die Schrecknisse jener Stunden ermessen? Da war keine Hilfe, keine Antwort auf

„die Worte Seines Gestöhns“. Der Himmel, der sich einst über Ihm aufgetan hatte, war jetzt vor Ihm verschlossen, und keine Erleichterung, kein Wort des Trostes wurde Ihm zuteil. „Mein Gott! Ich rufe des Tages, und Du antwortest nicht“. Wie ganz anders war es früher gewesen! Gott hatte Ihn allezeit erhört (vgl. Joh 11,42). Selbst in Gethsemane, ja, noch im Anfang Seines Kreuzesleidens hatte Er Erhörung gefunden. Aber jetzt war Gottes Ohr verschlossen, Sein Angesicht abgewandt.

 

 

Und doch, – o wie groß und herrlich ist unser geliebter Herr, wie anbetungswürdig zu aller Zeit! – und doch wankte Seine Vollkommenheit keinen Augenblick. Selbst wenn Gott Ihn verlassen hatte und Er im Blick auf Seine Person mit Recht fragen konnte: „Warum hast Du mich verlassen?“ blieb Gott stets Sein Gott. Ja, Er fügt Seinem Angstschrei sogleich die Worte hinzu: „Du aber bist heilig“. Gab es auch in Ihm keine Ursache zu diesem Verlassensein, (Jehova war ja von Mutterleibe an Sein Gott gewesen, und auf Ihn allein hatte Er von Seiner Mutter Brüsten an vertraut), so blieb Gott doch heilig, und Seine Wohnung war allezeit „unter den Lobgesängen Israels“. Nach Seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit konnte Gott nicht anders handeln, denn Jesus trug unsere Sünden an Seinem Leibe auf dem Holz. Gott musste den Anführer unserer Errettung „durch Leiden vollkommen machen“. Auf einem anderen Wege hätte Er, wie bereits bemerkt, unmöglich dieser Anführer werden können.

 

 

Beachten wir hier aber, dass Jesus nicht sagt: „Mein Vater, warum hast Du mich verlassen?“ Es war der heilige Gott, der gerechte Richter, mit dem Jesus es hier zu tun hatte. Wie genau ist Gottes Wort!

 

Möchten wir es nur immer geradeso lesen und festhalten, wie es uns gegeben ist! Nie sagt dieses Wort, dass Er vom Vater verlassen gewesen sei. Nein, selbst in jenem Augenblick, als Gott Sein Angesicht vor Ihm, dem Sündenträger, verbergen musste, war der gehorsame und vollkommene Mensch wegen Seines Gehorsams bis in den Tod und wegen Seiner freiwilligen Hingabe allezeit, auch in den drei Stunden der Finsternis, ein lieblicher Geruch, ein angenehmes Opfer für das Herz des Vaters. Er war nicht nur das große Gegenbild des Sünd- und Schuldopfers, das auf dem Altar Gottes oder außerhalb des Lagers verbrannt werden musste, sondern auch des Speis- und Brandopfers, die beide „ein Feueropfer lieblichen Geruchs dem Jehova“ genannt werden und von dem Priester (ganz oder teilweise) auf dem Altar geräuchert wurden (Vgl. 3. Mose 1–7 u. weitere Stellen). Wieder stehen wir vor dem wunderbaren Geheimnis Seiner Person. Wieder geziemt es uns, in Demut niederzufallen und anzubeten.

 

 

Wie ergreifend sind die Worte des Propheten: „Jehova gefiel es, Ihn zu zerschlagen, Er hat Ihn leiden lassen“, und: „Jehova hat Ihn treffen lassen unser aller Ungerechtigkeit“ (Jes 53)! Gott selbst legte Seine Hand auf Seinen Geliebten. Keine lindernde Schranke trat zwischen Ihn und die verzehrenden Gluten des göttlichen Zornes, gleichwie das Passahlamm nicht in einem Gefäß gekocht, sondern unmittelbar „am Feuer gebraten“ werden musste. Ja, es geziemte dem großen und heiligen Gott, den Anführer unserer Errettung so schrecklich leiden zu lassen. Auf eine andere Weise hätten Seine Heiligkeit und Gerechtigkeit nicht befriedigt werden können. Die Gnade konnte nur herrschen durch Gerechtigkeit (Röm 5,21). Die Schleusen der göttlichen Liebe konnten nur geöffnet werden durch die vollkommene Verherrlichung Gottes im Tode des Heiligen, Jesus. Über ihn, den Sündlosen, musste der Zorn Gottes sich rückhaltlos ergießen. Ihm, dem Reinen und Vollkommenen, dem Sanftmütigen und von Herzen Demütigen, musste das Licht des Antlitzes Gottes entzogen werden. Er stöhnte und schrie, aber niemand hörte auf Ihn. Die Väter hatten zu Gott gerufen und waren errettet worden. Sie hatten auf Gott vertraut und waren nicht beschämt worden. Aber Er war ein Wurm, und kein Mann. Er schrie und wurde nicht errettet. Gott selbst musste Ihn zerschlagen und die Strafe unserer Sünde auf Ihn legen. So weit waren wir von Gott entfernt, so schrecklich ist die Sünde und so groß die Heiligkeit Gottes, dass nichts anderes als das Verlassensein von Gott, dieses unsagbare, unergründliche Leiden unseres großen Bürgen und Stellvertreters, Gott zu befriedigen und uns zu erretten vermochte. Der Kelch des Zornes wider die Sünde musste bis zur Neige getrunken werden, und zwar getrunken durch den Sohn Gottes selbst. Das ist es, was dem Opfer seinen unermesslichen Wert verleiht.

 

 

Doch die schrecklichen Stunden gingen zu Ende. Der Augenblick kam, wo Jesus aus der Tiefe Seines Herzens heraus ausrufen konnte: „Es ist vollbracht!“ und: „Vater, in Deine Hände übergebe ich meinen Geist!“ Der Kelch war geleert, bis auf den Grund geleert. Gott war vollkommen verherrlicht, alle Forderungen Seiner Gerechtigkeit waren erfüllt. Das Werk war vollbracht, das der Sohn zu tun übernommen hatte, und nun gibt Er in Frieden und – wiederholen wir es! – in ungeschwächter körperlicher und geistiger Kraft Sein Leben dahin. Er übergibt Seinen Geist, indem er mit lauter Stimme schreit. Er läßt Sein Leben, um es in der Neuheit und Kraft der Auferstehung wiederzunehmen. Der Vorhang im Tempel zerreißt, der Weg ins Allerheiligste ist gebahnt. Eine vollkommene, ewig gültige Sühnung ist vollbracht, und der Erfüllung der Gnadenratschlüsse Gottes im Blick auf Sein irdisches und himmlisches Volk steht nichts mehr im Wege. Sein Vatername kann denen, die Jesus sich nicht schämt „Brüder“ zu nennen, geoffenbart werden. Die Frage der Sünde ist geordnet, und zwar gerade in jenem Augenblick, als die Sünde sich in ihrer ganzen Schrecklichkeit offenbarte.

 


 

Gottes Gerechtigkeit gegen die Sünde und Gottes Liebe zu dem Sünder sind vollkommen ans Licht getreten. Und nun verwandeln sich die bitteren Klagen des Herrn, Sein Rufen und Stöhnen, in einen herrlichen Siegesgesang: „Ja, Du hast mich erhört von den Hörnern der Büffel. Verkündigen will ich Deinen Namen meinen Brüdern; inmitten der Versammlung will ich Dich loben . . . Denn nicht verachtet hat Er, noch verabscheut das Elend des Elenden, noch Sein Angesicht vor Ihm verborgen; und als Er zu Ihm schrie, hörte Er“ (Ps 22,21–24).

 

 

Die Auferstehung war der öffentliche Beweis von dieser Erhörung des Herrn. Aber dass Er Erhörung gefunden hatte, gab sich schon am Kreuze kund in jenen friedevollen Worten: „Vater, in Deine Hände übergebe ich meinen Geist“. Die Finsternis war vorüber, das Gericht erduldet, der Zorn getragen, die Sünde gesühnt, und wenn auch der Tod zur Vollendung des Versöhnungswerkes eintreten musste, denn der Tod ist der Sünde Sold, so sehen wir doch den Herrn in Frieden abscheiden, in dem vollkommenen Genuss der wiedererlangten Gemeinschaft mit Gott. Er war verlassen gewesen um unserer Sünden willen, aber die Frage der Sünde war jetzt nach der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes ewig geordnet; und nachdem das geschehen, nachdem der Kelch völlig getrunken war, wurde Er „hinweg genommen aus der Angst und aus dem Gericht“. Er wurde vollkommen erhört.

 

 

O, Gott sei ewig gepriesen, dass wir so von unserem anbetungswürdigen Herrn und Seinem Werke reden dürfen! Er ist erhört worden, nachdem Er das ganze Gewicht der Heiligkeit Gottes gegenüber der Sünde gefühlt hatte. Er ist als Mensch, nach vollbrachtem Werke, in die wolkenlose Gunst Dessen eingetreten, der Ihn um unserer Sünden und Missetaten willen zerschlagen musste, und – Er ist nicht mehr allein dort. Er ist der Erstgeborene vieler Brüder geworden. Nach Seiner Auferstehung sandte Er Maria von Magdala mit der Botschaft an Seine Jünger: „Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, und zu meinem Gott und eurem Gott“ (Joh 20,17). Nie vorher hatte Er sie Brüder „genannt“, nie vorher ihnen in diesem Sinne den Vaternamen kundgemacht. Es war unmöglich. Erst jetzt, nachdem alles vollbracht war, konnte Er sie kraft dessen, was er für sie getan hatte, in dasselbe Verhältnis einführen, in welchem Er zu Seinem Gott stand.

 

 

Anbetungswürdiger Heiland! Als es galt, den Kelch zu trinken, war Er allein, ganz allein. Aber nachdem der heiße Kampf ausgestritten und der Sieg errungen war, hören wir Ihn sagen: „Inmitten der Versammlung will ich Dich loben“, nicht: „sollt ihr loben“, nein: „inmitten der Versammlung will ich Dich loben“. Er führt den Lobgesang an, wenn die Seinen in Seinem Namen versammelt sind. Er verkündigt Seinen Brüdern den Namen, der Ihm selbst so kostbar ist, und verbindet sie so mit sich in der innigsten und erhabensten Weise.

 

 

Was bleibt uns noch übrig? Nichts anderes, als mit den Heiligen in Off 1,5+6 auszurufen: „Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in Seinem Blute, und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern Seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen“.

 

O, Gottes Lamm! wer kann verkünden Den Reichtum Deiner Lieb und Huld? Wer Deiner Leiden Maß ergründen, Die Du ertrugst so voll Geduld?

Wie Schafe stumm zur Schlachtbank gehen,

Gingst Du hinauf nach Golgatha,

 

Wo Schrecken, Angst und Todeswehen Allein Dein Auge vor sich sah.

Von finstern Mächten ganz umgeben, bliebst Du doch völlig Gott geweiht, Gabst willig hin Dein teures Leben Zu Gottes Ehr und Herrlichkeit.

Hast Deine Lieb am Kreuz enthüllet, So wie der Mensch den tiefsten Hass, Hast Gottes Willen ganz erfüllet,

Und ach! der Mensch sein Sündenmaß.

Und Du, – o Liebe ohnegleichen! – Du gabst Dich selber für uns hin, Dass kein Gericht uns kann erreichen, Dass selbst der Tod für uns Gewinn.

Du hast für uns den Fluch getragen, Als Du am Kreuz zur Sünd‘ gemacht. Auf Dir all unsre Sünden lagen,

Als Du das Sühnungswerk vollbracht.

O Gottes Lamm! anbetend bringen,

Wenn schwach auch, wir Dir Preis und Ehr! Wir werden völlig dort besingen

Dein Lob mit allem Himmelsheer.

O Lamm! Du wardst für uns geschlachtet, Hast Gott erkauft uns durch Dein Blut, Hast uns zu herrschen wert geachtet

Und stets zu warten Deiner Hut.

 

(Carl Brockhaus)